Wer bin ich?


Ich bin seine Tochter. Seine Tochter, die ihn über alles liebte, auch wenn er manchmal als „schwierig“ bezeichnet wurde. Aber ich wusste, wie ich mit ihm umzugehen hatte, ich wusste, warum er sich zurückzog und als „schwierig“ galt. Mein Vater und ich hatten, auch wenn wir uns mal nicht einig waren, immer wieder zusammengefunden. Denn auch ich galt ja als „schwierig“, so versuchte ich, ihn nach und nach zu verstehen – und verstand ihn. Mit Sicherheit besser, als es seine Frau – meine Mutter – jemals konnte.

Ich hatte nie ein sicheres Elternhaus, wenn meine Mutter da war, das kann ich Nachhinein tatsächlich so sagen. Diese Tatsache ist mir aber erst viele Jahre später bewusst geworden. Mein Vater konnte mir Sicherheit geben, wenn ich mit ihm alleine war. Auf ihn konnte ich mich verlassen. Er war sehr liebevoll, lustig, ich hatte Respekt vor ihm und sah zu ihm auf.
  
Es gab keinerlei Liebe von ihrer Seite aus. Ich kann mich an keine Situation erinnern, in der sie eine liebevolle Mutter oder Ehefrau war. Sie gab mir nie das, was eine Mutter ihrem Kind geben sollte. Wärme, Vertrauen, Liebe, Geborgenheit, Zuverlässigkeit, Sicherheit. All das gab es bei ihr nicht. Da war nur sie. Stets im Mittelpunkt und die Welt drehte sich ausschließlich um sie. Und es war ihr zu diesem Zeitpunkt noch außerordentlich wichtig, dass es nach außen hin immer alles perfekt aussah. Sie, die perfekte Mutter, liebevolle Hausfrau, die schwer krank war und sich trotzdem noch um alles kümmerte. Die Familie zusammenhielt.

Da mein Vater viel arbeiten musste, fehlte mir häufig eine feste Bezugsperson. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl blieb bei mir aus. Meine Mutter zog stets eine unsichtbare Mauer um sich. Ich fühlte mich oft allein gelassen und isoliert, obwohl sie räumlich da war. Alles was ich in der Zeit mit ihr erlebt hatte, war zweckgebunden. Kein Spaß, keine Freude.

Ich versuchte als Kind oft, sie aufzuheitern. Oftmals brachte ich selbstgepflückte Blumen von draußen mit. Mal nahm ich ein wenig Geld aus meiner Spardose und kaufte ihr Blumen. Sie freute sich nicht darüber, ich bekam Ärger, weil ich das Geld aus meiner Spardose genommen hatte. In der Grundschule lasen wir mit unserer Klassenlehrerin ein Kinderbuch, darin kam eine kleine Hexe vor. Wir sollten ein Bild dazu malen. Ich schenkte dieses Bild meiner Mutter. Nie werde ich die Szene vergessen, die sie mir deswegen machte. Wirklich nie. Sie beschimpfte mich heftig, ich würde sie als Hexe bezeichnen. Ich erklärte ihr, warum wir in der Schule eine Hexe malen sollten, sagte ihr immer wieder, dass es nicht sie sei. Es war ein schlimmer Nachmittag. Sie war zutiefst beleidigt, weil ich sie als Hexe gemalt hätte.
  

Aber sie glaubte sowieso nie etwas. Egal, was vorgefallen war. Ich erinnere mich ebenfalls sehr gut an einen Vorfall in der Grundschule. Der Religionsunterrricht im Nebenzimmer war vorbei, der Raum leerte sich. 2 Mädels aus meiner Klasse kamen zu mir. Als der Raum ganz leer war, hielt mich die eine, die ein gutes Stück größer war als ich, von hinten fest und die andere trat bzw. schlug mich. Es war Pause, dementsprechend laut war es in der Schule und man hörte nicht, wie ich um Hilfe rief. Natürlich versuchte ich, mich zu wehren, aber ich hatte keine Chance gegen die beiden. Ich hatte große Angst. Als der Arm des Mädchens, das mich festhielt, in Reichweite meines Mund kam, biss ich kräftig hinein, bis sie mich endlich los lies. Ich flüchtete aus dem Raum.

Später kam meine Lehrerin auf mich zu. Fragte mich, ob ich dieses Mädchen gebissen hätte. Ich bestätigte das, erzählte aber auch, wie es dazu gekommen sei. Die Lehrerin informierte meine Mutter. Sie musste zur Schule kommen. Es gab richtig Ärger. Also nicht für die beiden Mädels, nein. Für mich. Wie ich einfach so dieses Mädchen beißen konnte. Die Lehrerin hatte die beiden gefragt und die hatten natürlich alles abgestritten. Ich verstand die Welt nicht mehr. Versuchte, mich zu rechtfertigen, wo es nichts zu rechtfertigen gab.

Meine Mutter glaubte mir kein Wort. Lange Zeit konnte ich mir zu diesem Vorfall Vorwürfe anhören. Denn das Mädchen wurde danach zum Arzt gebracht (es war keine Bisswunde, sondern lediglich für kurze Zeit meine Zahnabdrücke zu sehen). Da ich Angst hatte, dass so ein Übergriff erneut stattfinden würde, achtete ich in Zukunft sehr darauf, mit den beiden nicht mehr alleine zu bleiben.
  

Als mir daheim immer mehr auffiel, dass viele Dinge, die meine Mutter so erzählte, nicht stimmen konnten und mich vieles stutzig werden ließen, stellte ich Fragen. Lästige Fragen. Diese Fragen gefielen ihr natürlich nicht, denn dadurch bekam ihre „Krankengeschichte“ einen Beigeschmack.

Meine Eltern stritten sich ständig daheim. Es war ein ewiges Hin- und Her, kaum auszuhalten. Letzten Endes punktete sie immer beim Streit und ging als „Gewinnerin“ hervor, weil sie dann urplötzlich Schmerzen bekam oder es ihr „schlecht ging“. Mein Vater gab in diesen Situationen immer nach, entschuldigte sich bei ihr und kümmerte sich liebevoll um sie. Nahm ihr Arbeit ab, damit sie sich ausruhen konnte, auch direkt nach seiner Arbeit, wenn er heim kam. So lies sie immer mehr für ihn liegen. Sie war einfach unzufrieden mit allem und löste damit immer Streitereien aus.

Je mehr ich als Kind dagegen sagte, desto weniger glaubte man mir. Ich verstand zu dem Zeitpunkt nicht, dass ich als Kind keine Chance gegen „sie“ hatte und blieb natürlich bei meiner Meinung, denn ich wusste ja, was ich gesehen/gehört und erlebt hatte. Ich wusste, dass sie vieles nur vorspielte, gar nicht krank war.

Aber als Kind, zum damaligen Zeitpunkt, glaubte man mir nicht. Meine Mutter erklärte meinem Vater, dass ich „schwierig“ bin und „psychisch auffällig“. So kam es, wie es kommen musste – ich wurde zu einer Psychologin gebracht. Bekam Therapien gegen mein „angespanntes Verhalten“. War auch da „auffällig“, weil ich mit der Psychologin kaum redete. Das hatte aber nur den Grund, weil meine Mutter mir jahrelang eingebläut hatte, auf keinen Fall irgendwem etwas von daheim zu erzählen. Und das tat ich natürlich auch nicht, ich wollte ja nicht noch mehr Ärger haben.

Als ich ein wenig Vertrauen zu der Psychologin fasste und mal ein klein wenig erzählte, sprach sie daraufhin natürlich mit meinen Eltern. Das war eine absolute Katastrophe. Mir wurde von meiner Mutter natürlich eine „blühende Fantasie“ unterstellt.

So entwickelte sich für mich das Gefühl, dass ich mich immer und überall rechtfertigen muss. Ein Problem, dass ich auch heute noch im Erwachsenenalter habe – ständig die Sorge, man könnte mir nicht glauben.

Meine Mutter trieb einen immer größeren Keil zwischen meinem Vater und mir. Zu diesem Zeitpunkt verstand ich das allerdings noch nicht. Es kam, wie es kommen musste. Ich kam nun auch mit ihm nicht mehr zurecht. Weil ich es Zuhause nicht mehr ertrug, war ich zu diesem Zeitpunkt entweder viel bei Freundinnen oder mit diesen in der Stadt unterwegs. Da war immer was los. Hauptsache, ich musste nicht heim. War ich in der Grundschule noch eine sehr gute Schülerin, lies meine Leistung in der weiterführenden Schule enorm nach. Irgendwann versuchte ich mich, ihrer Kontrolle immer mehr zu entziehen. Fing an zu essen, was ich wollte. Hatte es mit viel Diskussionen durchsetzen können, etwas Taschengeld zur eigenen Verfügung zu haben.

Als es mir zu viel wurde, wollte ich freiwillig in’s Heim. Ich packte eines Tages das nötigste zusammen, fand raus, wo ich unterkommen konnte und landete in einer Jugendauffangstelle. Danach kam ich in ein Kinder- und Jugendheim. Es war für mich eine erholsame Zeit. Meinen Eltern passte das natürlich überhaupt nicht. Für meine Mutter war es ein absoluter Kontrollverlust. Mein Vater verstand aufgrund von erheblichen Informationsmangels die Gesamtsituation damals völlig falsch. Denn er musste sich ja auf das verlassen, was meine Mutter ihm erzählte.

Mir gefiel es im Heim, das muss ich wirklich sagen. Natürlich gab es feste Regeln und Grenzen, aber diese waren logisch und fair. Aber man durfte auch für sich sein, hatte Privatsphäre. Mein Kopf wurde wieder freier.

Als ich in dieser Zeit meinen ersten festen Freund kennenlernte, gefiel meiner Mutter das natürlich nicht. Sie versuchte nun auch im Heim, Druck zu machen. Gespräche dahingehend wurden angesetzt. Ich wollte das nicht. Da ich nach wie vor in die Schule in der Nähe meines Elternhauses ging, beschloss ich, nicht mehr zur Schule zu gehen. Ich wollte ihr nicht über den Weg laufen. Natürlich hatte ich ihr damit unbewusst in die Hände gespielt, was ich als 16-jährige aber damals nicht einschätzen konnte.

Mein Freund war 3 Jahre älter als ich, sie wollte uns auseinander bringen. Sie schaffte es tatsächlich, die damalige Kinderärztin, die mich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, davon zu überzeugen, dass ich psychisch labil sei! Eines Tages stand ein RTW in der Auffahrt des Heims und 2 Männer brachten mich in eine andere Stadt. Dort gab es eine Psychiatrie. Ohne jegliche Vorwarnung. Ohne Schuhe, nur mit Socken an, keine Brille auf. Ich bin freiwillig mitgegangen, weil ich natürlich nicht auf Ärger aus war und zu dem Zeitpunkt dachte, dass da ein Fehler vorliegen müsste. Ich war sogar so naiv und glaubte, dass meine Eltern das regeln und mich aus der Psychiatrie rausholen würden. Warum auch nicht, als Kind glaubt man natürlich so etwas.
  

Im Nachhinein weiß ich, dass meine Mutter mit dem Kontrollverlust einfach nicht klar kam, deswegen die Psychiatrie. Sie sah diese Maßnahme als einziges Mittel, dass ich wieder nach Hause kommen würde. 6 Wochen wurde ich von allen anderen Menschen, die ich kannte, isoliert. Einzig und allein meine Eltern durften mich besuchen. Wie ich diese Besuche in der Zeit empfand, kann man sich sicherlich vorstellen. 6 Wochen war ich in dieser Psychiatrie eingesperrt, zusammen mit an Essstörungen erkrankten Menschen, Menschen mit Suizidabsichten und Menschen mit schwersten Psychosen. Es war ein furchtbares Gefühl, einfach mitten aus dem Leben gerissen und weggesperrt zu werden. Ich hatte die erste Zeit sehr viel Angst an diesem Ort.

Als ich erfuhr, dass meine Mutter dies alles inszeniert hatte, war ich sprachlos. Mein Vater war ein Mitläufer, das weiß ich heute und ihm gebe ich auch keine Schuld an diesem Vorfall.

Meinem Freund, der gerade 19 war, wurde in der Zeit gedroht, dass er sofort jeglichen Kontakt zu mir unterlassen sollte, ansonsten würde man ihn wegen Verführung Minderjähriger anzeigen. Das erfuhr ich später. Ich brauche nicht zu erwähnen, dass ich meinen Freund danach los war. Wir waren noch nicht so lange zusammen und das alles war zu viel für ihn. Seine Freundin in der Psychiatrie, die drohende Anzeige … wer hat auf so etwas schon Lust. Der Kontakt brach sofort ab.

Den Heimplatz war ich ebenfalls los. Nach diesen 6 Wochen hatte ich es dann 3 Tage bei meinen Eltern ausgehalten und bin dann für ein weiteres Wochenende freiwillig in die Psychiatrie zurückgegangen. Ich konnte meine Eltern einfach nicht mehr zusammen ertragen, diese ständigen Streitereien und Vorwürfe! Da ich aber nicht dort bleiben konnte – weil ich halt keine Erkrankung hatte – musste ich nach dem Wochenende wieder nach Hause gehen.

Sämtliche Freunde hatten den Kontakt aufgrund meiner Einweisung in die Psychiatrie abgebrochen! Ich war komplett alleine, hatte keine Freunde mehr. Angeblich weil deren Eltern nicht wollten, dass sie mit einem Mädchen Kontakt hatten, die in der Psychiatrie war. Ich hatte meinen Stempel weg. Meine Mutter hatte es geschafft, mich zu isolieren.

In der Zeit, in der ich weggesperrt war, hatte meine Mutter meine Stofftiere aus Kindheitstagen gewaschen. Sie zeigte mir ein Foto davon, wie die Stofftiere vor Wochen auf der Leine hingen, meinte, ich würde mich darüber bestimmt freuen, dass sie nun gewaschen sind. Ich saß zu diesem Zeitpunkt immer noch in einem Kinderzimmer mit Dingen, die ein Kind hat, aber keine Jugendliche. Sie verstand das einfach nicht.

Aufgrund dieser ganzen Ereignisse hatte ich meinen Schulabschluss nicht machen können. Ich musste in die Nachprüfung und bekam nicht mehr den Schulabschluss, den ich mir eigentlich noch vor einiger Zeit erhofft hatte.

Ich durfte nun auch nicht mehr alleine rausgehen, nur noch mit ihr zusammen, weil sie Angst hatte, ich würde wieder „verschwinden“ und ins Heim gehen. Das war furchtbar.

Diese ganzen Wochen hatten dann endgültig und dauerhaft das Verhältnis zu meiner Mutter zerstört. Ich begriff in der Zeit nach und nach immer mehr, dass sie diejenige war, die manipulierte, er nur das machte, was sie wollte.

Irgendwann ertrug ich sie nicht mehr, das Jugendamt wurde eingeschaltet. Ich weiß tatsächlich nicht mehr, ob meine Mutter oder ich dahingehend Kontakt aufnahmen.

Ich traf mich immer mal wieder mit einer Sachbearbeiterin vom Jugendamt und wir besprachen vieles. Obwohl meiner Mutter das nicht passte, fanden die Treffen nicht in der elterlichen Wohnung, sondern in einem Café statt – ohne sie. Das war wirklich gut. Leider wurde diese Sachbearbeiterin krank und verstarb nach kurzer Zeit. Später bekam ich dann einen anderen Sachbearbeiter zugewiesen. Mit ihm klappte die Kommunikation noch besser. Irgendwann bekam ich die Erlaubnis, schon vor meinem 18. Geburtstag auszuziehen und es war eine einzige Erleichterung.

Nach vielen Jahren hatte meine Mutter mehrfach versucht, sich für die Einweisung in die Psychiatrie bei mir zu entschuldigen. Nach der ausgesprochenen Entschuldigung kamen aber gleich wieder Schuldzuweisungen und Vorwürfe, so dass ich diese Entschuldigung nie annehmen konnte und auch nie annehmen werde. Ich kann es nicht. Diese Zeit hat einfach zu viel mit mir gemacht.
  

Mein Leben verlief im Prinzip so weiter… immer mit dem Gefühl, nie wirklich geliebt zu werden. Nie gut genug zu sein. Immer hätte ich etwas besser machen können – beruflich, privat, einfach immer und bei jedem bisschen. Ständig versuchte ich, besser zu sein. Mehr zu geben, einfach dem zu entsprechen, was von mir gefordert wurde. Ich gab in allem nicht 100%, sondern 150%. Als das nicht reichte, 200%.

Ich wurde immer mehr zu dem, was von mir erwartet wurde.

Leider übernahm ich dieses Verhalten dann auch in meiner Ehe. Dies hat mich nachhaltig sehr geprägt, ich hatte den Absprung von meinem narzisstischen Ehemann gerade noch so im letzten Moment „geschafft“.

Aufgrund der vielen eigenen Probleme in meiner Ehe bekam ich von meinen Eltern natürlich viele Jahre diesbezüglich nur noch wenig mit. Ich dachte, es ist zwar noch immer ein wenig schwierig zwischen den beiden, aber sie lieben sich wohl doch noch zu sehr und hätten sich zusammengerauft. Nach der Trennung von meinem Mann war ich dann öfter bei meinen Eltern und bekam so natürlich nach und nach mehr mit. Viel mehr.

Als mein Vater nach vielen Arbeitsjahren in Rente ging, freute ich mich, dass er nun endlich mehr Zeit für sich haben könnte. So naiv war ich zu diesem Zeitpunkt immer noch.

Irgendwann merkte ich, dass zwischen den beiden alles noch viel schlimmer geworden war als früher. Je häufiger ich bei ihnen war, desto mehr kam die ganze Bosheit meiner Mutter zum Vorschein. Immer häufiger gängelte sie meinen Vater, behandelte ihn vor meinen Augen und sogar vor den Augen meines Kindes schlecht, machte sich über ihn lustig usw.

Über die letzten Jahre hatte sich das dann tatsächlich so entwickelt, dass sie vor unseren Augen anfing, ihn auch mal zu schubsen, obwohl er aufgrund seines fortgeschrittenen Alters nicht mehr ganz sicher auf den Beinen war – und dass, obwohl sie ihm körperlich total unterlegen ist und ebenfalls über 80! Sie schnitt ihm in der Küche auch gerne mal den Weg absichtlich ab, obwohl sie viel besser zu Fuß war als er. Lauter kleine Gemeinheiten, denen er den ganzen Tag von morgens bis abends durchgehend ausgesetzt war. Ich konnte mir so langsam eine Vorstellung davon machen, was wohl bei den beiden „abgeht“, wenn sie unter sich sind.

Ich war entsetzt. Sie degradierte ihn vor Augen anderer, egal bei wem, ob Familienangehörige, Bekannte, Fremde – vor jedem. Beim einkaufen im Supermarkt, vor uns sowieso, beim Arzt – egal wo und bei wem. ER war immer der, der an allem Schuld war. Und er machte auch in ihren Augen nichts richtig. Hauptsache, sie konnte ihn wie der letzte Trottel aussehen lassen.

Da ich das nicht mit ansehen konnte und nach wie vor – wie schon als Kind – ihre Lügen durchschaute, mischte ich mich ein. Ergriff immer mehr Partei für ihn. Das ging jedes Mal für eine Weile gut und immer, wenn ich dachte, nun hat mein Vater es endlich verstanden, hat ihre Lügen und ihre erfundenen Krankheiten durchschaut, hatte „sie“ es letzten Endes wieder geschafft, einen Keil zwischen meinem Vater und mir zu treiben. Er stellte sich schützend vor sie und verteidigte sie.

Diese Tatsache hat mich viele Jahre erneut stark an mir zweifeln lassen. Ich stellte mir immer wieder Fragen, ob ich was falsch mache. Ob ich vielleicht einfach nur alles falsch verstehe. Wurde noch unsicherer, als ich es eh schon war. Zweifelte noch mehr an mir selbst.

Dennoch sprach meine Mutter mich gerne an, wenn es etwas zu erledigen galt. Dafür war ich ihr immer gut genug. Immerhin war ich die, die auch mal „ordentlich mit anpacken konnte“. Auch mal Dinge erledigte, für die sich die meine Schwester zu fein war, weil die Fingernägel gerade frisch gemacht waren und ähnliche wichtige Dinge. Sowieso war die Schwester – ein Kind aus der ersten Ehe meiner Mutter – in ihren Augen immer die bessere Tochter. Ihr wurde mehr vertraut, sie war nicht so „rebellisch“ wie ich, hatte ihrer Ansicht nach mehr erreicht im Leben – kurzum: in den Augen meiner Mutter war meine Schwester schon immer „mehr Wert“ als ich.

Viele Jahre hatte ich mir das angeschaut. Sehr viele. Es war schwer zu ertragen. Aber ich wusste, wenn ich mich von der Familie abwenden würde, würde mein Vater eines Tages untergehen und wäre ihr hilflos ausgeliefert. Nach und nach entwickelte ich eine regelrechte Antipathie gegen meine Mutter. Viele Jahre war ich im Glauben, dass ich etwas falsch gemacht haben muss. Dass ich mich falsch verhalten habe, was mir durch meine Mutter (bis heute übrigens noch!) auch immer wieder deutlich gesagt wurde. Dass ich „schwierig“ sei, aufmüpfig, „nicht normal“, aus der Reihe tanze.

Viele Jahre habe ich das wirklich geglaubt. Wusste aber nicht, was ich anders hätte machen sollen. So entstand ein schlimmer Konflikt in mir selbst, den ich nicht zu lösen wusste. Vor gut 10 Jahren dann kam ich darüber mit einem Psychologen ins Gespräch. In zahlreichen Stunden haben wir vieles analysieren können und ich weiß heute:

Sie hat ihre Probleme zu meinen Problemen gemacht. Sie hat ihre Unzufriedenheit auf andere projiziert. Und ich weiß: Sie ist ein toxischer Mensch.

Im Laufe der Jahre wurde mir bewusst, dass sich eine Krankheit in unsere Mitte eingeschlichen hatte: Das Münchhausen-Syndrom. Ihre psychische Erkrankung hat unsere ganze Familie kaputt gemacht. Hat meinen Vater zu ihrem Komplizen werden lassen.

Heute weiß ich: Meine Eltern sind 2 Menschen, die nie hätten zusammen kommen dürfen.