Selbstgewählte Einsamkeit: Wie sie uns von der Welt abschottete (8)


Sie ließ aber auch ganz bewusst den Kontakt zu immer mehr Menschen einschlafen, das bekam ich mehrfach mit. Hatten wir früher noch sehr viele Kontakte, so wurden diese immer und immer weniger. Anrufe blieben aus, Besuche fanden nicht mehr statt, obwohl wir eingeladen wurden.

Die Einladungen wurden weniger. Es kamen weniger Briefe und Postkarten aus dem Urlaub. Sie sagte alles ab, weil sie so krank sei. Oder weil man sonst auf sie Rücksicht nehmen müsste, weil sie ja nicht alles essen könne. Ich bekam sehr häufig mit, dass man bei den vorherigen Einladungen ihr immer schon entgegen gekommen war und extra für sie z.B. Sättigungsbeilagen ohne Fett oder Salz gekocht hatte. Aber trotzdem hatte sie bei all diesen Verwandten, Bekannten und Freunden dann immer die Ausrede auf Lager, dass ihr diese Sättigungsbeilagen aber nicht reichen würden, das wäre ja so gemein, wenn die anderen „normales“ Essen zu sich nehmen dürften und sie nicht. Meistens endeten die Gespräche dann damit, dass man ihr dazu riet, sie möge sich doch lieber selbst etwas zu Essen mitbringen, das wäre besser.

Sie verstrickte sich dann in Ausreden, warum sie nicht kommen könnte. Von da an brach der Kontakt meist ab. Ich erlebte häufiger als Kind, wie wir zufällig beim einkaufen genau diese Menschen wieder trafen. Jeder hatte trotz alledem weiterhin versucht, Kontakt zu unserer Familie zu halten. Meine Mutter aber hatte keine Lust mehr auf diese ganzen Kontakte und hat alles einschlafen lassen.
  
Ich spürte dieses Unverständnis jedes einzelne Mal, wenn wir ehemalige Bekannte, Freunde und Verwandte trafen. Meistens fingen diese Gespräche, an meine Mutter gerichtet, so an: „Wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen. Gut siehst du aus, ich dachte, du bist so krank. Meld dich doch mal wieder, wir hören ja gar nichts mehr von euch!“

Meine Mutter antwortete dann meistens: „Ach, wenn duuuu wüsstest …“ und es folgten ausführliche Schilderungen über ihre Krankheiten, Durchfälle, was der und der Arzt sagte und und und. Wurden wir dann erneut eingeladen – denn meine Mutter lud niemanden mehr ein – schlug sie diese Einladungen für uns alle auch wieder aus, weil sie ja so krank sei. Irgendwann meldete sich keiner mehr. Wenn das Telefon klingelte, war es entweder eine Arztpraxis wegen eines Termins, eine Apotheke oder ähnliches.
  
Ich kann das Verhalten der Anderen im Nachhinein verstehen. Meine Mutter lebte ja ganz normal weiter, sah nicht krank aus. Einkaufen, Friseur, Urlaub, alle ihr angenehmen Dinge konnte sie erledigen. Mit ihrem Verhalten isolierte sie nicht nur sich selbst, sondern auch meinen Vater und mich natürlich noch mehr.
  

Im Krankenhaus: Zwischen Genesung und Selbstsabotage (9) »