Kontrolle und Manipulation: Eine Kindheit im Schatten der Krankheit (2)


Und so schlich sich langsam und unaufhaltsam eine wirkliche Erkrankung in Form einer schweren psychischen Störung in unsere Familie ein: Das Münchhausen-Syndrom. Dazu wurde ihre Kontrollsucht immer stärker. Sie schlich sich vor Zimmertüren, blieb stehen, lauschte, wenn mein Vater und ich miteinander sprachen. Hörte Telefonate ab, die wir mit anderen führten, durchsuchte unsere Taschen und Jacken. Sollte man etwas für sie erledigen, kontrollierte sie stets, ob man es auch richtig gemacht hatte. Auch bei meinem Vater. Machten wir Erledigungen, mussten wir hinterher genau erzählen, was wir gemacht hatten. Auch wenn mein Vater oder ich alleine unterwegs waren, mussten wir ihr danach berichten, was wir gemacht hatten. Wo ist man lang gegangen/lang gefahren, wen hatte man getroffen und wenn man jemanden getroffen hatte, über was hatte man geredet?

Sie erwartete im Laufe der Zeit auch immer mehr, dass wir ihr „Handreichungen“ machen. Kleinigkeiten über „Gib mir mal das Glas aus dem Schrank“ über „Hol mir mal ein Handtuch“. Alles Selbstverständlichkeiten, wenn man miteinander zusammen lebt. Irgendwann schlug es um und es wurde ein reines delegieren. Sie „scheuchte“ uns, machte immer weniger selbst, und lies machen.
  

Dann kamen irgendwann auch Medikamente bei ihr ins Spiel. Etwas gegen Durchfall, aber auch etwas zum abführen, denn das Mittel gegen Durchfall würde zu sehr „stopfen“. Dazu noch Vitamin-Präparate, denn durch ihre wie sie immer jedem erzählte „Mangelernährung“ war sie ja nicht ausreichend versorgt. Eisenpräparate und Magnesium kamen hinzu … Sie bekam aufgrund ihrer Angaben beim Arzt irgendwann solche Präparate auch gespritzt, denn sie würde ja „nichts bei sich behalten“ und wäre somit mangelernährt. Ich erinnere mich noch gut an die ganzen Medikamente und Fläschchen, die in der Küche bzw. im Schlafzimmer gut und für jeden sichtbar offen herumlagen. Vermutlich, damit jeder sieht, wie krank sie ist. Die kleinen Fläschchen mit Vitaminen, die sie vom Arzt gespritzt bekam, musste sie selbst zahlen. Diese Packung lag offen, angerichtet wie eine Packung Merci, quasi als Mahnmal im Schlafzimmer auf dem Sideboard und fiel gleich ins Auge.

Sie schummelte mit ihrer Gewichtsangabe, gab bewusst weniger Gewicht an. Als das auffiel, nahm sie solange ab, bis sie in das Untergewicht rutschte und hält dieses Gewicht seitdem konstant.

Sie wurde immer gehässiger. Anders kann man es nicht sagen. Zu gerne kontrollierte sie mein Zimmer in der Zeit, als ich in der Schule war. Sie machte daraus auch kein Geheimnis. Selbst mein Tagebuch war vor ihr nicht sicher, Briefe von Freundinnen und und und. Sie schaute in sämtliche Kisten, Kästen und Schubladen. Wenn etwas in meinem Zimmer nicht richtig aufgeräumt war, machte sie den berühmten langen Arm und beförderte alles aus dem Schrank/vom Schreibtisch oder von den Regalen. Kleidung, die ich nicht richtig weggehangen hatte, wurden vom Kleiderbügel genommen, ich musste diese danach wieder neu aufhängen und wehe, alles stand nicht an dem vorherbestimmten Ort.

Ich werde nie vergessen, wie oft ich nach der Schule meine Zimmertür öffnete und mich ein Berg aus Kleidung und meinen Spielsachen anschaute. Alles komplett auf dem Boden liegend, ein Riesenchaos. Meist kam sie dann zu mir und wurde sehr gehässig. Ihr gefiel diese Machtposition, die sie mir gegenüber hatte.
  

Auch mochte sie nicht, wenn ich Zeit für mich hatte. Also half ich sehr, sehr viel im Haushalt mit. Das ist eine Tatsache, die sie heute immer noch abstreitet. Trotzdem ich zur Schule und mein Vater arbeiten ging, mussten wir an allen Ecken und Enden Dinge für sie erledigen.

Hatte ich Ferien, bekam ich erst mal so richtig mit, was sie so den ganzen Tag über eigentlich machte. In dieser Zeit als Kind begleitete ich sie sehr häufig zu Ärzten. Mal fuhren wir, oft liefen wir bis in die Nachbarstadt. Es ging mal zu diesem Arzt, mal zu jedem. Bei den ganzen Arztbesuchen ging natürlich viel Zeit drauf, so dass andere Dinge im Haushalt einfach liegen blieben.

Wir fuhren auch viel meinen Vater besuchen, entweder mal im Büro oder wir trafen uns in seiner Mittagspause in der Kantine, wo er regelmäßig aß. Als Kind fand ich das natürlich toll, dass ich meinen Vater auch zwischendurch mal sehen konnte. Wenn ich heute darüber nachdenke, finde ich es merkwürdig, wie häufig wir doch bei ihm waren, denn eine Fahrt dauerte immer schon eine gute halbe Stunde! Vermutlich hatte das auch etwas mit einer Form der Kontrolle zu tun.
  

Die Doppelmoral der Krankheit: Versteckte Wahrheiten, offene Lügen (3) »