Hilfsmittel und Show: Wenn der Nutzen zur Nebensache wird (16)


Das Thema Osteoporose wurde bei ihr ein Thema und diese Diagnose glaubte ich ihr tatsächlich, da es für mich nachvollziehbar war. Ihre ständig selbstgewählte Mangelernährung, das Alter … Umso mehr ging ich davon aus, dass sie also diesbezüglich vorsichtig sein würde. Und früher wäre sie das auch gewesen. Bis irgendwann ein Anruf meines Vaters kam … meine Mutter hatte sich einen Wirbel im Rücken gebrochen und war im Krankenhaus. Der Heilungsverlauf war reibungslos, der gebrochene Wirbel wurde zementiert. Sie blieb einige Zeit in der Reha, machte dort aber mehr Faxen als dass sie sich an irgendwelchen Übungen beteiligte. Aber das kannten wir ja schon, sie machte ungerne das, was man ihr sagte.

Als sie entlassen wurde und nach Hause kam, sollte sie weitere Hilfsmittel bekommen – eine Stange an ihrem Bett, die von der Zimmerdecke bis zum Fußboden reichte, eine Art Aufstehhilfe, dazu eine Art flexible Leiter ans Fußende des Bettes, einen Rollator und einen Toilettenstuhl. Ich erinnere mich noch sehr gut an diesen Tag. Mein Vater bat mich im Vorfeld schon, anwesend zu sein, wenn sie heim kommen würde. Ich stand am Fenster und wartete auf das SaniCar, mit dem sie gebracht werden sollte. Meinem Vater ging es nicht gut, da er wusste, was für ein Stress auf ihn zukommen würde, wenn sie wieder da ist.

Allerdings hatte meine Mutter ohne unser Wissen selbstständig von der Reha aus einen Termin mit dem Sanitätsfachhaus gemacht, die alles zur elterlichen Wohnung bringen und dort montieren bzw. aufbauen sollten. Den Termin legte sie so, dass sie zeitgleich aus der Reha mit dem Team des Sanitätsfachhaus bei uns ankam. Nur: weder mein Vater noch ich waren darüber informiert.
  
Auf einmal war also nicht nur meine Mutter mit den Sanitätern wieder da, sondern auch 3 Leute vom Sanitätsfachhaus, die in der Wohnung rumwuselten und Hilfsmittel verteilten. Als die Aufstehhilfen am Bett befestigt waren, legte meine Mutter sich in ihr Bett, um diese zu testen. 2 Männer des Sanitätshaus und ich standen um das Bett herum und schauten ihr dabei zu. Man sah richtig, wie sie diese Aufmerksamkeit genoss, ich werde diesen Moment nie vergessen. Und obwohl sie komplett angezogen war (Jeanshose usw.) und ich mit Sicherheit sagen kann, dass keiner der Anwesenden auch nur ansatzweise irgendwie anzüglich oder sonstiges wurde, sagte sie dann im Bett liegend sehr forsch zu einem der beiden: „Na! Junger Mann! Wo gucken sie mir denn hin???!“.

Ich ging dann aus dem Schlafzimmer raus und verdrehte die Augen. Irgendwann reicht es dann aber auch mal. Immer musste sie peinliche Situationen auslösen.

Als ich ins Wohnzimmer zu meinem Vater ging, der ein wenig überfordert mit der Situation war, sah ich, wie dort gerade der Rollator für meine Mutter hingestellt wurde. Mein Vater bekam in diesem Moment einen kleinen Schwächeanfall, wir stützten ihn, brachten ihn auf die Couch und ich holte schnell etwas zu trinken. Es war zu viel für ihn. Er berappelte sich aber schnell wieder und stritt das natürlich alles weiterhin ab. Es sei alles OK mit ihm.
  

Der Toilettenstuhl für sie wurde hingestellt. Also nicht das sie ihn bräuchte, nein. Sie benutzte weiterhin ganz normal die Toilette. Sie rollte anfänglich mit dem Toilettenstuhl als Rollstuhlersatz durch die Wohnung, lies diesen aber dann immer mitten im Zimmereingang stehen, so dass niemand mehr laufen konnte und lief dann im Zimmer herum – selbstständig, ohne Hilfe. Als ich irgendwann anmerkte, dass ein Toilettenstuhl kein Fortbewegungsmittel sei und es zudem noch gefährlich wäre, diesen mitten im Weg stehen zu lassen, wechselte sie zum Rollator. Als ich auch hierüber meine Bedenken äußerste (denn sie konnte ja richtig laufen), verschwand auch der Rollator irgendwann in einer Ecke.

Von den ganzen „Erkrankungen“ zuvor hatte sie schon zahlreiche Duschhocker, einen Duschstuhl, mehrere Griffe im Bad, die unbedingt befestigt werden musste, aber nur einer davon wurde genutzt. Dann hat sie seit vielen Jahren ein Dusch-WC mit „Fernbedienung“, das von der Krankenkasse unbedingt bewilligt werden musste. Weil sie ja immer so Durchfälle hat. Natürlich wurde die Duschfunktion von ihr so gut wie nie und seit bestimmt 20 Jahren überhaupt nicht mehr genutzt. Hauptsache sie „besitzt“ diese Dinge. Vom letzten Krankenhausbesuch kam sie dann mit einem Rollstuhl nach Hause. Auch den benötigt sie natürlich nicht. Mehrere Korsagen, die extra für sie angefertigt wurden kamen hinzu. Diese zieht sie aber so gut wie nie an, denn die tragen so auf. Mehrere Kissen und Dreh-Sitzkissen bekam sie bewilligt.

Das hat nun zur Folge, dass zahlreiche Hilfsmittel in der Wohnung verteilt sind, das meiste davon wird nicht verwendet. Weil sie diese Dinge überhaupt nicht benötigt.
  
Wirklich sinnvoll wäre ein Handlauf für meinen Vater im Korridor gewesen. Aber das wollte sie nicht und so gab es dieses Hilfsmittel auch nicht. Ich hatte mehrfach versucht, das durchzusetzen – ohne Erfolg. Wäre der Handlauf für sie gewesen, hätte dieser natürlich montiert werden dürfen. Da aber mein Vater dieses Hilfsmittel benötigte, boykottierte sie die Anschaffung.
  

Da mein Vater sehr große Rücksicht auf meine Mutter nahm, ging er nachts ohne das Licht anzumachen auf die Toilette. Vor Jahren bekam ich mit, dass er das auch trotz der erhöhten Sturzgefahr weiterhin so praktizierte. Wir schenkten ihm eine Lampe mit Fernbedienung, die er von seinem Bett aus auf der Toilette anschalten konnte. Meiner Mutter gefiel das nicht. Wir rüsteten die Nachttischlampen mit smarten LEDs und den dazugehörigen Lichtschaltern aus, diese lassen sich ebenfalls als eine Art Fernbedienung nutzen. Das Licht lies sich also auch dimmen damit. Auch das gefiel meiner Mutter nicht, mein Vater musste weiterhin nachts im Dunkeln zur Toilette gehen. Bis ich eines Tages für beide Betten eine Bettbeleuchtung mitbrachte und befestigte. Sobald nun die Füße aus dem Bett Richtung Boden zeigten, ging automatisch ein dezentes Licht an, welches den Fußboden erleuchtet. Dieses wurde fast sofort von ihr akzeptiert.

Da wir nun einen Hub für die smarte Beleuchtung hatten, rüsteten wir bei meinen Eltern 2 weitere Lampen mit LEDs aus, diesmal im Wohnzimmer, inkl. passender Fernbedienung. Wir wollten es meinem Vater etwas bequemer machen, er sollte nicht ständig für sie aufstehen müssen, um ihr das Licht ein- und auszuschalten. Wir erklärten ihr ebenfalls die Fernbedienung, die wirklich sehr simpel ist: An, Aus, Heller, Dunkler. 4 Knöpfe. Nach und nach verlor sie daran das Interesse und boykottierte diese Fernbedienungen. Die smarten LEDs wurden nun direkt per Hand an den jeweiligen Schaltern der Lampe an- und wieder ausgemacht. Dafür musste mein Vater natürlich wieder aufstehen, denn sie wollte sitzenbleiben.

Im Wohnzimmer gab es auch 2 Steckdosen, die mein Vater allabendlich einschalten musste. Diese beiden Steckdose waren aber sehr schwer bzw. umständlich zu erreichen. Da er sich aufgrund seines Alters immer schlechter bücken konnte, holten wir dafür smarte Steckdosen. Obwohl das alles mit ihr abgesprochen und sie tatsächlich auch einverstanden mit der Anschaffung war, durfte er diese Dinge danach nicht nutzen. Und er mochte diese smarten Dinge.

Er bückte sich also weiterhin zu den nun smarten Steckdosen und schaltete diese von Hand an und aus. Die Halterung der Fernbedienung der smarten LEDs wurden von ihr als Aufbewahrungsort für Kleinstzeugs zweckentfremdet.

  

Da es meiner Mutter morgens in der Küche zu kalt war, schlugen wir smarte Heizkörperthermostate vor. Die Heizung konnte morgens schon mal ein wenig die Räume vorwärmen, mit den entsprechenden Fensterkontakten schaltete sich die Heizung auch jedes Mal runter, sobald ein Fenster geöffnet wurde. Sie wollte nur ein einziges für die Küche haben. Wir richteten das alles ein. Sie war nicht zufrieden damit. Wir passten die Zeitpläne an. Zum Frühstück war es dann wieder zu kalt, zu warm … wir passten erneut die Zeitpläne dafür an, mit ihr zusammen. Auf die Minute genau richteten wir das nach ihrem Wunsch ein.

Ich selbst nutze diese Thermostate seit Jahren und sie funktionieren wirklich einwandfrei. Aber ihr gefiel das alles nicht. Meine Vermutung war: zuvor musste mein Vater immer die Heizung für sie hoch- und runterdrehen, das wurde nun zeitgesteuert automatisch gemacht. Ihr hätte es vermutlich besser gefallen, wenn er das hätte machen müssen.

Sie kritisierte weiterhin die Zeitpläne des smarten Heizkörperthermostat. Ich sollte ihr nun genau die Zeiten dieser Zeitpläne aufschreiben. Das tat ich und gab ihr den Zettel. Fortan stand sie nun zu diesen Zeiten am Heizkörperthermostat und kontrollierte, ob diese auch wirklich korrekt arbeiteten. Ja was soll ich sagen?! Natürlich funktionierte es. Es gab nichts zu beanstanden! Dachte ich. Aber ich hätte es besser wissen müssen.

Eines Tages erzählte sie mir, dass nun morgens der Raum kalt geblieben sei, das Heizkörperthermostat würde nicht richtig funktionieren, sie hätte beim Frühstück gefroren. Sie wirkte ziemlich zufrieden, als sie mir das erzählte. Endlich hatte sie etwas gefunden, dass sie beanstanden konnte. Ich fragte meinen Vater, was das los sei, oft konnte er zur Rätsels Lösung beitragen. Er wusste aber auch nicht, wo das Problem lag. Wir forschten nach. Später entdeckten wir eher zufällig, dass meine Mutter die manuelle Schaltung aktiviert hatte. Sobald diese aktiviert ist, funktioniert natürlich der Zeitplan nicht mehr und die Bude blieb kalt. Wir erklärten ihr das lang und breit. Sie verstand. Sagte sie. Und ich bin mir absolut sicher, dass sie es verstand.

Von nun an war in diesem Raum ständig die Heizung „ausgefallen“. Schauten wir nach, war das Heizkörperthermostat wieder mal auf manuell gestellt. Natürlich war es niemand gewesen, das hatte sich von selbst so verstellt. Interessanterweise passierte diese „Fehlfunktion“ des Heizkörperthermostats nur, wenn meine Mutter da war. War sie im Krankenhaus oder zur Reha, gab es überhaupt keine Probleme damit.
  

Manipulation mit Folgen: Der Preis für den höheren Pflegegrad (17) »