Im Krankenhaus: Zwischen Genesung und Selbstsabotage (9)


Die Jahre vergingen, relativ früh zog ich von Zuhause aus, weil ich diese ewigen Spannungen und Kontrolle einfach nicht mehr ertrug.

Sie lebte seitdem ihr Leben immer rücksichtsloser, von Jahr zu Jahr. Irgendwann erfuhr ich, dass mein Vater sie zwar noch zu den Ärzten hinfahren durfte, aber nicht mehr mit ins Behandlungszimmer und geschweige denn mit den Ärzten reden durfte. Vermutlich hat er mal etwas gesagt, was er nicht hätte sagen dürfen oder sie bei einer ihrer Lügen ertappt.

Immer mehr Apothekenblättchen, Gesundheitsratgeber, Hefte von Krankenkassen, Selbsthilfegruppen usw. lagen bei meinen Eltern herum, sie sammelte und orderte alles, was sie kriegen konnte. Ein Stapel im Wohnzimmer, einer in der Ecke des Wohnzimmers, ein weiterer in der Küchenschublade, dicke Ordner füllten sich mit Krankenhausberichten. Mein Vater musste sämtliche Sendungen, die im Fernsehen liefen und mit Gesundheitsthemen zu tun hatte, für sie aufnehmen.
  
Irgendwann wurde das Thema „Darm“ für sie relevant. Hatte sie im Vorfeld schon viele Magenspiegelungen, gab es nun dazu auch noch Darmspiegelungen. Da wir nie Befunde oder Diagnosen von ihr zu Gesicht bekamen, ist es schwierig, dazu etwas zu sagen. Nur: ihrem Verhalten nach zu urteilen kann es ihr nicht schlecht gegangen sein.

Was mir auffiel: Sie wechselte auch zu diesem Zeitpunkt wohl häufiger den Arzt, bis sie endlich jemanden fand, den sie wohl zu einer Operation überreden konnte. Ich war zu diesem Zeitpunkt sehr überrascht, als sie mir erzählte, sie „müsse“ operiert werden.

Die OP wurde durchgeführt, ihr wurde ein Stück Darm entfernt. Die OP verlief komplikationslos. Mein Vater hatten sie die Tage danach auch immer wieder besucht. Als er und ich uns dann zufällig bei einem der Besuche Tage nach der OP über den Weg liefen, er gerade von ihr ging und ich kam, grüßten wir uns kurz und ich blieb dann bei meiner Mutter. Mein Vater war keine Minute aus ihrem Krankenzimmer, da wurde meine Mutter unruhig. Fing an, sich hin- und herzuwälzten, rief „Nein, nein, nein“ und wurde immer unruhiger, wollte sich den Verband vom Körper entfernen. Ich bekam Angst, holte einen Arzt.
  
Dieser kam, schaute nach ihr, redete beruhigend auf sie ein. Sie hörte dann damit auf. Kaum war der Arzt wieder raus und ich mit ihr alleine, fing sie erneut damit an. Ich lief wieder los und holte den Arzt. Der Arzt war gerade aus ihrem Zimmer, da ging das Spielchen erneut los, zum dritten Mal.

Der Arzt kam erneut und schickte mich dann umgehend aus dem Zimmer, außerdem holte er eine Schwester hinzu. Nach einiger Zeit kam er dann aus dem Zimmer meiner Mutter und erklärte mir, sie hätte eine Panikattacke gehabt und um sich selbst zu schützen gab er ihr ein wenig zur Beruhigung, sie würde nun schlafen.

Ich hatte zwischenzeitlich meinen Vater per Handy informiert, der noch nicht weit weg vom Krankenhaus und eigentlich auf dem Weg zum Mittagessen war. Als er eintrudelte, war der Arzt gerade weg und meine Mutter dämmerte ruhig ins Land der Träume.

Mein Vater und ich waren uns beide sehr einig, dass das eine gute Sache wäre, denn so konnte sie sich gut erholen nach der OP. Da wir schon eine Menge Mätzchen von ihr kannten, war das dann auch kein weiteres Thema mehr zwischen uns. Ich aber ärgerte mich im Nachhinein sehr darüber, denn durch ihr Verhalten geriet ich selbst in Panik.
  
Einen Tag später war sie wieder „wach“. Sie gab an, nichts von diesem Vorfall mitbekommen zu haben. Mag sein, mag nicht sein. Man kann es natürlich wie alles andere auch wieder einmal nicht beweisen. Wir erzählten ihr daraufhin, was passiert sei und natürlich war sie sauer, dass der Arzt sie einfach so „betäubt“ hätte, „der“ hätte sowieso keine Ahnung gehabt. Wie immer. Jeder Arzt hatte keine Ahnung und verstand sie nicht.

Ich kann die Entscheidung des Arztes wirklich nachvollziehen. Es sah aus wie selbstverletzendes Verhalten. Was wäre passiert, wenn sie sich die Verbände abgerissen und evtl. aufgestanden wäre? Vielleicht durchgedreht wäre? Sie ist in solchen Situationen einfach nicht einzuschätzen. Der Arzt musste also handeln. Gut, vielleicht hatte sie nicht damit gerechnet, dass der Arzt so rigoros reagiert, das kann gut sein. Vielleicht hatte sie auch vorher schon Mätzchen gemacht und wir hatten das nicht mitbekommen. Keine Ahnung.
  

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