„… sagen Sie mal … hat Ihre Tochter auch schon Weihnachtsplätzchen gebacken?“ – Kapitel 3


Gekonnt bremse ich meinen Schwung ab, drehe mich geschickt und stehe erwartungsvoll im Bruchteil einer Sekunde vor meiner überrascht mich anblickenden Frau und stecke verlangend eine Hand aus.

„Nun mal langsam mit den jungen Pferden, mein Herr…“, meine Frau schließt vor meiner Nase die Küchentür und ehe ich einen Ton sagen kann, öffnet sie diese wieder spaltbreit und bevor ich zu einer weiteren Reaktion fähig bin, sagte sie kurz und bündig. „Mund auf!“, schiebt sie mir etwas in meinen gehorsam geöffneten Mund, tätschelt mir darauf liebevoll mein Gesicht, lächelte kurz, sagte. „Eine kleine Kostprobe… mehr gibt es nicht.
Übrigens… ist jetzt gleich nicht Fußball im Fernsehen?“, und sie schließt schwungvoll die Küchentür vor mir und hinter sich.

Ich stehe da wie ein Ochs vorm Berg, schlucke den kleinen Bissen Kostprobe nachdenklich-überrascht einfach herunter… und auf einmal blieb ich stocksteif im dunklen Korridor stehen, als wenn mich das berühmte Pferd eines nicht minder berühmten Politikers getreten hätte.

Dieser Geschmacksfetzen der kleinen Kostprobe auf meiner Zunge… ich strapazierte sogleich meine Geschmacks- und mittel- bis langfristigen Erinnerungsnerven.

Und… irgendwo in einer dunklen Ecke meiner Erinnerungen war etwas… etwas an sinnlichen Eindrücken aus meiner eigenen kindlichen Vergangenheit, das mich in einer mir bis jetzt nicht mehr erlebten Art und Weise an meine frühkindliche Weihnachtszeit erinnert.

An meine eigene Weihnachtszeit… an ein Weihnachten mit geschmücktem Tannenbaum… und mit viele Lichter und noch mehr buntschillernden Christbaumkugeln… und an den heiligenabendliche Kirchenbesuch mit den Eltern und Großeltern… und danach das mächtiges Glockengeläute vor der Kirche… und dann endlich die Bescherung unter dem Tannenbaum… und die Geschenke… und das Spielen mit den Geschenken bis in die Nacht… und dazu Essen und Trinken…

Wie lange ich im dunklen Korridor so mutterseelenalleine herum stehe, weiß ich nicht mehr – als ich ins Wohnzimmer gehe, die Flimmerkiste anschmeiße und die Fußballübertragung suchte, da… war ich… ja, was war ich eigentlich?

Ich ertappe mich dabei, dass mir das Fußballspiel meines Leib-und-Magen-Lieblingsvereines nicht mehr so sehr berührte, wie es sonst war.

Und, als mir meine Frau dann danach mein Abendbrot bringt und auf meine fast flehend vorgetragene Frage nach einem kleinen Stückchen Weihnachtsplätzchenkostprobe nur wortkarg „Heute nicht.
Frisch schmecken die Plätzchen noch nicht… ein andermal…“, antwortet, sich danach umgehend, wie mir es schien, leicht erschöpft zurück in die Küche begibt, da hocke ich anschließend bei meinem einsamem Mahl wie der letzte einsame Von-irgend-woher einsam am Tisch, den einsamen Kopf voller einsamer Gedanken und aufkeimende einsame Erinnerungen an früher… an meine eigene vor- und weihnachtliche Kindheit… an die leider niemals mehr wiederkehrende himmlische Zeit zwischen dem erstem Advent und dem Heiligen Abend… und… ich gestehe es… hier und heute… und wahrscheinlich auch in alle Ewigkeit… ich habe es genossen … die Erinnerungen an früher… an meine eigene Kindheit!

Und auf einmal beschleicht mich dabei ein eigenartiges Gefühl… ein anheimelndes überirdisches Gefühl, das mir zu verstehen gibt, ich bin hier, jetzt, in diesem Moment, nicht mehr alleine im Zimmer.

Und ich sitze da… mit geschlossenen Augen, angespannt, in der Erwartung der Dinge, die auf mich zukommen… und ganz langsam, tief aus meinem Innersten, weiß ich auf einmal, wer mit mir im Zimmer ist.

Und mein Gefühl steigt an, hörte ich zur Küche hin, vernehme irgendwelche unverständlichen Worte von meiner Frau und meiner Tochter… und da weiß ich plötzlich ganz genau, wer bei mir im Zimmer ist… das Christkind!

Irgendwann des Nachts werde ich durch ein unverständliches Flüstern meiner etwas unruhig neben mir schlafenden Gattin wach und schlaftrunkend murmelte sie für mich unverständlich so etwas wie. „… beim Bäcker nur einen Euro fünfzehn das halbe Pfund… einfach nur aus dem Regal nehmen und bezahlen. … oder nächstes Jahr… da backe ich selber Plätzchen…“
  

Am nächsten Mittag zur Pausenzeit im Büro… wir diskutierten gerade in der notwendigen schöpferischen Phase vehement über die abteilungsbedingten zwischenmenschlichen Betriebsereignisse der jüngsten innerbetrieblichen Vergangenheit sowie deren Auswirkungen auf die kurz- bis mittelfristige Zukunft… sehe ich zufällig, wie die Kollegin Hintzen, Mutter von Michael, der wiederum eine Mitschüler meiner Tochter ist, nachdem sie von ihrem Taschenrechner unauffällig einige weißliche Flecke abgeputzt hat, diskret in ihre Schreibtischschublade greift und darauf ihre Hand geschwind zum Mund führt und während einer Gesprächspause genüsslich kauend zuhört… da zieht der Hauch eines herrlichen Geruches durch unser Büro.

Als der Kollege Wolter, Vater von Frauke, ebenso Mitschülerin meiner Tochter, kurz darauf in seine Aktentasche greift und auch mit einem kurzen Bewegung einen unbekannten kleinen Gegenstand zum Mund führt und sogleich genüsslich kauend aufisst… und auch dieser herrliche weihnachtliche Geruch von frisch gebackenen Plätzchen meine Geruchsnerven wohltuend umspült.

Da fallen mir die morgendlichen verschmitzt- freundlichen Abschiedsworte meiner Tochter ein, die mir, entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit und morgendlicher pubertätsbedingter und sonstiger jugendlicher Wortkargheit, gerade heute Morgen einen recht schönen Appetit gewünscht hatte, was darauf mit einem erneut für mich unverständlichen Blick meiner erschöpft aussehenden Gattin begleitet wurde…

Ich greife langsam in meine Aktentasche, hole meine Butterbrotdose hervor, legte sie auf meinen Schreibtisch und unter den nachlassenden Diskussionsbeiträgen aller zuschauenden Kolleginnen und Kollegen sowie deren zunehmenden Blicken hebe ich den Deckel ab.

Und da liegen sie dann… fantastisch geruchsumhüllt… individuell einmalig optisch geformt und absolut frühjugendstilartig-visuell-künstlerisch gestaltet… die ersten für mich bestimmten Weihnachtsplätzchen meiner Tochter!

Unter den für mich unverständlich kritisch blickenden Augen und zunehmender eingetretener Stille aller anwesenden Kolleginnen und Kollegen schiebe ich mir das erste Plätzchen genüsslich an den Mund, hole dazu meine seit gestern wieder aufgetauchten und schon fast verloren geglaubten vor- und weihnachtlichen Erinnerungen hervor, beiße ein kleines Stückchen vom ersten Plätzchen ab, kaue genussvoll mit geschlossenen Augen, esse ebenso den Rest… dann das zweite Plätzchen, das dritte Plätzchen folgt.

Und, als die Kolleginnen und Kollegen nun auch in ihre Schubladen und Taschen greifen und ebenso, vielleicht ähnliche, wahrscheinlich aber minderquanti- und minderqualitativ schmeckende und erst recht so aussehende Weihnachtsplätzchen und für mich auch noch unverständlicherweise genussvoll essen… da wehte für mich ein Hauch von Weihnachten durch das Büro.

Und für einen klitzeklitzekleinen Moment hatte ich das traurige Gefühl, das Christkind schüttelt etwas enttäuscht seinen gelockten Kopf… über mich, weil ja andere Eltern auch plätzchenbackende Töchter und Söhne haben.

„… he… Sie!
Sie da… ja, Sie.
Genau… Sie meine ich.
Kommen Sie doch mal näher heran… oder leihen Sie mir ein Ohr.
Psst… sagen sie mal… hat Ihre Tochter auch schon Weihnachtsplätzchen gebacken?
Wenn sie das Rezept haben wollen… gerne… oder… kann ich Ihres bekommen?
Ach ja… und Ihnen allen auch noch Frohe Weihnachten!“