Abschiedsbrief


Ich sehe dein Bild an, dass hier bei mir steht und ich kann es bis heute nicht glauben, dass es dich nicht mehr gibt. Ich weiß noch, dass wir doch erst noch deinen Geburtstag zusammen feierten. Wie schön diese Zeit war, wie sehr du dich über meinen gebackenen Kuchen gefreut hattest. Ich hatte dir extra 3 verschiedene Kuchen gebacken, denn du mochtest Abwechslung so sehr.

Dann dein Sturz … ich weiß nicht, wie oft ich dir in den folgenden Wochen an deinem Krankenbett erzählte, was an dem Tag passiert war. Aber bedingt durch die Verletzungen waren viele Dinge einfach nicht mehr da, du konntest sie immer weniger begreifen und dich daran erinnern. Ich weiß noch, es gab Tage, an denen erkanntest du mich überhaupt nicht mehr. Das war sehr schlimm für mich. Ich hatte versucht, mir meine Traurigkeit nicht anmerken zu lassen, denn du hättest nicht gewollt, dass ich traurig bin. An manchen Tagen dachtest du sogar, ich sei sie. Ich weiß, dass das durch deine Verletzung kam.
  

Ich weiß auch, dass ich dich in den Wochen vor deinem Tod, nach deinem Unfall, genervt habe. Ständig war ich bei dir, hatte versucht, dir aufzuzeigen, dass es noch weiter gehen kann, auch dieser Unfall noch nicht das Ende sein muss. Ich wollte nicht zulassen, dass du weiterhin an Kraft verlierst. Du wusstest genau wie ich, dass du immer weiter abbauen würdest, je länger du liegen bleibst. Wir hatten das doch vor Jahren schon mal nach einem Unfall durchgemacht und auch geschafft!

Wie sagtest du mir noch so schön im Frühling, als Mutti in der Reha war: „Ich will wieder laufen, auch weite Strecken. Ich will das schaffen!“ Das war doch dein Ziel! Du warst so motiviert ohne sie, fröhlich, hast viel gelacht. Ich hatte so Hoffnung!

Wir haben so vieles versucht, dich wieder auf die Beine zu bringen – es gab so viele kleine Hoffnungsschimmer zwischendurch. Ich weiß noch, als in der kurzen Zeit, in der du nach dem Unfall in der Kurzzeitpflege warst, ich dich einfach mit dem Rollstuhl zu einem Sing-Treff vom Haus mitgenommen hatte. Du mochtest Musik so sehr wie ich! Sie spielten viele Lieder, die du und ich als kitschig bezeichnet hätten. Ich wusste nicht, ob es dir gefiel oder nicht und fragte dich, ob du lieber gehen möchtest. Aber du wolltest bleiben und weiter zuhören. Dann kam das Lied „Deine Spuren im Sand“ von Howard Carpendale. Ich sah zu dir rüber, dein Gesichtsausdruck war so leer. Dein Mund blieb immer öfter geöffnet. Ich sah, wie du immer weniger du selbst wurdest, die Augen leerer, von Besuch zu Besuch. Ich streichelte dir über die Wange und musste bei dem Lied weinen. Ich erinnerte mich an unseren damaligen Urlaub, als wir viel am Strand gelaufen sind, ich ein Kind war.

In diesem Moment realisierte ich, dass wir wahrscheinlich nicht mehr viel Zeit miteinander haben würden.

5 Tage vor deinem Tod hatte ich ein letztes Mal versucht, dich zu motivieren. Du wolltest nicht mehr. Ich verstand. Und akzeptierte es. Obwohl ich in meinem Leben schon einige schwere Entscheidungen treffen musste, war es die, vor der ich immer am meisten Angst hatte. Und dann hörtest du für immer auf zu atmen. Ich werde diesen Tag nie vergessen. Zu unwirklich war das alles für mich. Es konnte nicht sein.
  

Deine ganzen Geräte und Daten habe ich an mich genommen. Sie bekommt nichts davon und sie kann es auch nicht mehr verschenken oder entsorgen. Nach deinem Tod bin ich direkt am nächsten Tag an deinen Schreibtisch und habe alles, was sie nichts angeht, in Sicherheit gebracht. Das alles wäre als erstes rausgeflogen, weil sie ja nie Verständnis dafür hatte.

2 Tage später ist sie übrigens wirklich zur Bank gegangen, um zu schauen, was sie alles erbt. Ich dachte, sie wartet wenigstens bis nach deiner Beerdigung damit, aber nein, sie hatte es da sehr eilig. Du hättest ihr freudiges Gesicht sehen sollen, als sie sich alles anschaute. Ich stand daneben und war fassungslos! Ich wusste, wie herzlos sie war. Aber das dann in echt zu erleben, war nochmal eine ganz andere Hausnummer.
  

Mutti trauert nicht um dich. Das tut mir sehr weh. Sie bemitleidet sich weiterhin selbst und sieht jetzt nur, dass sie alles alleine machen muss. Keiner, der ihr die Wäsche aufhängt und wegräumt, niemand der abwäscht, keiner bedient sie von vorne bis hinten.

Ich wollte dein Grab erstmal bepflanzen, bevor eine Grabplatte drauf gesetzt wird, damit es nicht leer steht und hübsch aussieht. Sie sollte mitkommen, schöne Blumen für dich aussuchen. Wir waren dafür verabredet. Sie hat mich versetzt, wieder einmal. Anstatt dass sie sich fertig gemacht hatte, wie verabredet, saß sie am Frühstückstisch und tat erstmal so, als wenn sie von gar nichts wusste. Selbst jetzt spielt sie noch ihre Spielchen.

Wir kämpfen gefühlt um jede Pflanze, die auf das Grab soll und jede Kerze. Sie will wie immer alles bestimmen, macht aber nichts. Wie immer halt. Wenn es nach ihr gegangen wäre, wäre dein Grab auch heute noch leer. Sie geht dich auch nie besuchen, nur wenn ich sie explizit dazu auffordere.
  

Ich versuche zu verdrängen, dass du nicht mehr da bist. Rede mit dem Bild von dir, höre deine Antwort, die du sagen würdest. Lenke mich mit allen möglichen Dingen ab, aber abends kommt die Traurigkeit in mir hoch. Mir fehlt deine Frage, was es Neues bei mir gibt! Du hast mich so oft gefragt, interessiertest dich dafür! Hast dich nach deinem Enkelkind erkundigt, wenn es nicht mit war. Das fehlt jetzt so sehr. Sie interessiert sich weiterhin nur für sich.

Tage nach deinem Sturz, als mir die schwere deiner Verletzungen bewusst wurde, stand ich in eurer Küche und mir kamen die Tränen. Ich machte mir so Sorgen um dich! Sie kam auf mich zu, rieb mir über den Arm und meinte nur hämisch: „Ich weiß, er war dein Schatz.“ Sie meinte dich damit! Ich kann dir nicht sagen, wie viel Wut ich in diesem Moment empfand. Alleine, dass sie von dir zu diesem Zeitpunkt, wenige Tage nach dem Unfall, in der Vergangenheit sprach, fand ich unmöglich. Sie war nicht traurig, es machte ihr nichts aus, dass du so schwer verletzt warst! Sie wollte einfach nur weiterhin ihr Gift versprühen.
  

Ich hatte mir so große Sorgen die letzten Jahre um dich gemacht! Ich weiß, du hattest immer gesagt, ich brauche mir keine Sorgen machen. Aber dafür war viel zu viel vorgefallen, als dass ich mich nicht um dich Sorgen könnte. Sie hatte dich einfach nicht verdient! Warum hast du dich nicht von ihr getrennt?!

Ich weiß, du hast sie geliebt. Ich muss das akzeptieren. Aber sie hat dich so unglücklich gemacht.
  

Sie hat ihr Spielchen durchgezogen und gewonnen. Das ist einfach nicht fair. Und ja, ich weiß, was du jetzt sagen würdest („Weißt du: Das Leben ist manchmal nicht fair“), aber es ist trotzdem unfair.

Weißt du noch, als es vor Monaten so aussah, als wenn sie von der Reha ins Seniorenheim kommt und da bleiben müsste? Weil sie dir erzählte, wie schwer krank sie war? Dass sie nicht mehr nach Hause kommen könnte? Und weißt du noch, wie wir beide aufatmeten?! Wie enttäuscht wir waren, als wir erfuhren, dass sie doch wieder nach Hause kommt?
  

Ich bereue es im Nachhinein noch mehr, dass ich mich nicht mehr durchgesetzt habe. Wie oft hatte ich versucht, Mutti zu überreden, dass wir Silvester, Weihnachten, Ostern miteinander feiern. Aber sie hat es nicht zugelassen. Und jedes Jahr an diesen Tagen dachte ich: „Hoffentlich können wir das nächste Jahr noch zusammen feiern!“. Und genau so ist es jetzt gekommen. Wie gerne hätte ich mit dir nochmal ein Weihnachtsfest verbracht. Wie gerne Silvester. Wie viele Jahre Silvester durften wir nicht mehr zusammen feiern? Einmal zwischendurch hatten wir noch Glück, ja. Wie gerne haben wir beiden an Silvester zusammen ein Herz und eine Seele im Fernsehen gesehen, weißt du noch? Ich hätte das so gerne nochmal mit dir angeschaut.

WALL-E hatten wir zur Hälfte miteinander angesehen, dann bist du vor Erschöpfung eingeschlafen. Diesen Film wollten wir immer nochmal zu Ende ansehen. Dafür gibt es keine Chance mehr. Nie mehr. Und irgendwann wollten wir auch nochmal in unser Musical gehen. 4x war ich früher schon mit dir dort und es war schon so lange her.
  

Ich erwische mich immer wieder dabei, dass ich dir einen interessanten Artikel oder ein lustiges Video zuschicken möchte. Doch dann fällt mir ein, dass du nicht mehr da bist. Ich habe unseren Gesprächsverlauf trotzdem noch im Messenger. Ich kann dich nicht löschen. Aber jedes Mal, wenn ich den Messenger öffne und dein Bild sehe, bricht es mir das Herz. Ich lese zum zigsten Male durch, was wir uns zuletzt geschrieben hatten, deine letzte Antwort. Ich hatte dir zum Geburtstag lustige Bilder geschickt und du hattest freudig geantwortet. Und sehe dabei auch, wie wenig wir uns eigentlich nur noch schreiben konnte. Denn ständig passte sie auf, was wir uns schickten. Das ist so schade.

Dafür freue ich mich umso mehr, deine ganzen teilweise sehr langen Geschichten retten zu können. Ich weiß, wie wichtig dir diese waren!
  

Ich wünsche dir alles nur erdenklich Gute, wo auch immer du bist. Du warst der beste Papa, den ich mir je vorstellen konnte. Ohne dich hätte ich eine furchtbare Kindheit gehabt, ich weiß das im Nachhinein noch mehr als früher schon zu schätzen. Sie hat nie verstanden, was für ein wertvoller Mensch du warst.
  

Du hast jetzt deine Ruhe vor ihr. Für immer. Und so sehr ich dich auch vermisse, so sehr gönne ich dir diese Ruhe. Endlich Frieden, keinen Streit mehr, keinen Stress. Keine Vorwürfe. Keine Beleidigungen. Keine Schmerzen.
  

Du bist nun frei. Für immer. Ich hab dich lieb, Papa.