20.10.2024 – Brief an dich


Hey Papa,
  

Mutti ist wieder im Krankenhaus. Wie immer, wenn man sich auf sie verlassen möchte, geht sie. Ist nicht da und lässt einem im Stich. So auch dieses Mal.

Und nun stehe ich hier, mit all den Sachen. Ganz alleine. Die große Wohnung, die Papiere, die teilweise übervollen Schränke. Mit allerlei Vorräten in einem ungesunden Maß. Sie bunkert und hat dabei den Überblick verloren.
  

Alles eigentlich nicht mein Problem und doch ist es mein Problem geworden, weil sie sich einfach aus dem Staub gemacht hat. Wie immer. Aber das kennst du ja zur Genüge. Verlass war auf sie noch nie.
  

Nach und nach wird mir immer mehr bewusst, wie viel du eigentlich für sie gemacht hast. Wie bequem sie eigentlich ist. Wie egoistisch. Wie manipulativ! Und wie unverschämt.
  

Papiere bleiben liegen. Deine Sachen wollten wir zusammen wegräumen, auch das ist nun an mir alleine hängen geblieben. Und es ist mir verdammt nochmal nicht leicht gefallen, deinen Schreibtisch leerzuräumen, deine Kleidung aus den Schränken zu nehmen. Alleine in der Wohnung, wo vor Monaten noch so viel Leben war. Deine Armbanduhr wegzuräumen, dein Taschenmesser. Deine Mundharmonika von früher. Das alles werden wir behalten, als Erinnerung an dich. Ich habe mir 2 Strickjacken von dir zurückbehalten, die konnte ich einfach nicht abgeben. In einem deiner Jackets habe ich noch Eintrittskarten und 1,50 DM gefunden. Ich musste lachen, als ich sie fand und dachte mir gleich: Na, da hat Mutti aber nicht richtig kontrolliert!
  

Deine Kleidung werde ich spenden. Ich weiß, wie gerne du Sachen abgegeben und verschenkt hast und ich weiß, es hätte dir gefallen, dass sich andere noch darüber freuen werden.

Deine Fotos haben wir eingescannt, auch die ganz alten. Es ist so schön, diese alten Bilder in groß am PC zu sehen, auch das hättest du toll gefunden. Das weiß ich.

Ich habe alte Ausdrucke meiner E-Mails an dich gefunden, du hattest diese verwahrt. Die Tage werde ich mich in Ruhe hinsetzen und diese nochmal durchlesen. So alt sind diese E-Mails schon, bestimmt 20 Jahre.
  

Du fehlst mir so. Keiner, der wie sonst da ist, wenn sie im Krankenhaus liegt. Kein gemeinsames Kaffeetrinken, kein Kuchen, den wir gemeinsam essen. Unsere Gespräche … nichts. Nur Stille.
  

Erkenntnis der Woche: Das Leben geht einfach so weiter. Genauso wie vorher auch. Niemand interessiert es, dass du auf einmal nicht mehr da bist. Niemand kümmert es. Es ist so, als wenn es dich nie gegeben hätte. Alles läuft genauso wie vorher auch weiter. Nur – ohne dich.

Wie gerne würde ich wieder mit dir reden. Ich erwische mich immer wieder dabei, wie ich an deinem Foto vorbeigehe und mir dann einfällt, dass du ja gar nicht mehr da bist. So weit weg ist dieser Gedanke noch für mich. Noch immer nicht greifbar. Es kann einfach nicht sein. Du siehst so lebendig aus auf diesem Foto. Und doch ist es Realität.
  

Ich hab dich lieb.