Drohung und Drama: Kontrolle durch emotionale Erpressung (19)


Vor gut 10 Jahren gab es eine Situation, die mir ebenfalls nachhaltig im Gedächtnis blieb. Ich war überrascht, wie ruhig mein Vater in dieser Situation blieb. Heute weiß ich, dass er ihr Verhalten diesbezüglich schon viel länger kannte, wir hatten es bis zu diesem Tag noch nie selbst miterlebt.

Sie zettelte wohl wieder einmal einen Streit mit meinem Vater an, wieder einmal völlig sinnlos, sie wollte mit aller Macht ihren Willen durchsetzen. Wir kamen zufällig in dieser Situation hinzu. Sie beschwerte sich gleich wieder über ihn bei uns und wollte uns meinungstechnisch auf ihre Seite ziehen. Das machte sie zu dieser Zeit sehr gerne und sehr oft – sie erzählte Dinge über meinen Vater und wir sollten dann als eine Art Schiedsrichter fungieren und ihm sagen, dass er im Unrecht wäre.

Zum einen kannten wir diese Spielchen von ihr schon, zum anderen … es waren oftmals so wilde Dinge, die sie da erzählte, dass wir gleich wussten, es war einer ihrer Phantastereien. Also lehnten wir ab, parteiisch zu sein, weder für sie, noch für ihn. Wir sagten auch deutlich, dass das nicht unsere Angelegenheit sei. Das wären Eheprobleme, das müsste sie mit ihm klären.

Sie flippte völlig aus, wurde laut, hysterisch. Wir versuchten, sie zu beruhigen. Sie rannte in die Küche, schnappte sich ihr Herzmedikament, erzählte was von „sie will das alles nicht mehr“ und sperrte sich im Schlafzimmer ein. Das ging blitzschnell. An diesem Tag merkte ich wieder, wie sehr sie ihn unter Kontrolle hatte. Und auch uns. Denn natürlich reagierten wir alle darauf, was im Nachhinein gesehen vielleicht ein Fehler war. Aber hinterher ist man immer schlauer.

So wie ich die Situation einschätze, war es ein absolut psychisches Problem und da müsste mal drauf geguckt werden. Jetzt, hier und heute. Dass sie ein grundlegendes psychisches Problem hatte, war mir natürlich schon lange bewusst, auch, dass es sich hierbei um das Münchhausen-Syndrom handeln wird, war mir klar.
  

Wir versuchten mehrfach, durch die verschlossene Schlafzimmertür mit ihr zu reden, baten sie darum, die Tür wieder zu öffnen. Irgendwann antwortete sie einfach nicht mehr, es herrschte absolute Stille im Schlafzimmer. Da sie sich mit dem Herzmedikament eingeschlossen UND gesagt hatte, dass sie „das alles nicht mehr will“, schnappte ich mir das Telefon und wollte gerade den Notruf wählen, als ich von meinem Vater eine ganz klare Ansage diesbezüglich bekam.

Er verbot mir, einen Notruf abzusetzen. Ich verhandelte, diskutierte. Es half nichts, er untersagte mir deutlich und unmissverständlich, den Notruf für diesen meiner Meinung nach psychiatrischen Notfall zu wählen. Ich war entsetzt darüber, sagte ihm aber auch, dass er hiermit die gesamte Verantwortung für diese Situation übernehmen muss. Er stimmte zu. Ich verstand die Welt nicht mehr.

  

Etliche Zeit später sperrte meine Mutter die Schlafzimmertür auf, es wirkte, als hätte sie bewusst abgewartet, bis sich alle komplett verstritten hatten. Das Spektakel um sie hatte sie natürlich im vollen Ausmaß mitbekommen. Sie tat danach, als wenn nichts gewesen wäre, reagierte auch nicht auf meine Fragen, die ich ihr diesbezüglich stellte. Mein Vater tat danach auch, als wenn nichts gewesen sei.

Ich war mir sicher, ich hatte irgend etwas an dieser Situation falsch verstanden. Es konnte nicht anders sein! Jahre später sprachen wir alleine mit meinem Vater über solche Situationen. Er kannte diese Spielchen schon von ihr! Sie machte so etwas tatsächlich öfter, drohte und erpresste ihn. Nun hatte sie uns dieses Verhalten mit ihren zu diesem Zeitpunkt über 70 Jahren auch mal gezeigt.
  

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