Ein medizinisches Wunder: Schlaganfälle, die nie Spuren hinterlassen (15)


In den letzten 20 Jahren haben wir bestimmt alleine schon für den Verdacht auf einen Schlaganfall bei ihr 15 – 20x oder vielleicht sogar noch öfter einen Rettungswagen gerufen, manches mal kam auch ein Notarzt mit.

Als mein Vater mich diesbezüglich das erste Mal darüber informierte, dass meine Mutter einen Schlaganfall hat und er den RTW gerufen hätte, bin ich in absoluter Panik zur elterlichen Wohnung. Ich kam zeitgleich mit den Sanitätern an und hätte in dem Moment selbst Sauerstoff benötigt, so außer Atem war ich. Als die Sanis und ich die elterliche Wohnung betraten, stand mein Vater in der Tür, meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt einfach nochmal selbstständig auf die Toilette gegangen und hatte sich umgezogen, man kann ja nicht in Jogginghose das Haus verlassen, sagte sie.
  

Der gepackte Koffer stand schon für das Krankenhaus bereit und ich verstand die Situation nicht wirklich. Einen Schlaganfall haben und dann noch locker flockig vorher alleine auf Toilette gehen, bevor die Rettung kommt? Sich umziehen?! Merkwürdig. Ihr war auch nichts anzumerken, kein hängender Mundwinkel, keine Beeinträchtigung der Extremitäten – gar nichts! Auch den Sanitätern kam das natürlich sagen wir mal „eigenartig“ vor.

Die ganze Familie saß trotzdem zu diesem Zeitpunkt noch voller Sorge im Krankenhaus und wartete auf ihr Untersuchungsergebnis. Man weiß ja nie! Im Gespräch mit der behandelnden Ärztin stellte sich dann heraus, dass es kein Schlaganfall war, sie aber natürlich zur Beobachtung ein paar Tage auf die Überwachungsstation kommt. Die Ärztin stimmte uns zu, dass das Verhalten meiner Mutter auch sonst recht untypisch bei einem Schlaganfall sei.

Nach einigen Tagen Krankenhausaufenthalt wurde sie entlassen und hatte natürlich nichts von diesem „Schlaganfall“ (den sie ja auch nicht hatte) zurückbehalten. Also zumindest ist das die inoffizielle Variante. Die offizielle Variante, die meine Mutter auch überall herum erzählt ist natürlich eine andere! Wie auch immer sie das schaffte … vermutlich durch den damaligen Hausarzt, den sie zu beeinflussen wusste …

Sie bekam eine Überweisung zur Logopädie ausgestellt, da sie aufgrund des Schlaganfalls nicht richtig sprechen konnte! Das erzählte sie mir alles selbst, als sie wieder daheim war. Bei unseren ganzen Gesprächen noch Minuten zuvor, hatte sie keinerlei sprachliche Beeinträchtigungen. Jedes Wort kam ihr fehlerfrei und flüssig über die Lippen.

Als sie mir aber dann berichtete, dass sie nun zu einem Logopäden muss, weil sie aufgrund des Schlaganfalls Probleme beim sprechen hat, sprach sie plötzlich ganz anders. Sie stockte beim reden, „suchte“ nach den richtigen Worten. Ich konnte das alles nur mit einem „Aha“ kommentieren, sonst hätte ich etwas falsches gesagt.

Als es dann kurz danach wieder um ein ganz anderes Thema ging und sie abgelenkt war, sprach sie wieder völlig „normal“. Das alles bestätigte nicht nur die Aussage der behandelnden Ärztin im Krankenhaus, sondern auch meinen Verdacht – sie hatte die ganze Nummer mit dem Schlaganfall nur vorgetäuscht. Ich war unfassbar wütend darüber. Die Termine bei der Logopädie nahm sie wenige Male wahr und ging dann nicht mehr hin. Ich vermute mal, dem Logopäden waren ebenfalls Ungereimtheiten aufgefallen und er hatte ihr dies auch mitgeteilt.

So etwas muss übrigens auch mit der Zeit immer öfter vorgekommen sein. Scheinbar wurde sie nach und nach von Ärzten und Therapeuten immer mal wieder „durchschaut“, denn urplötzlich konnte sie dann zum entsprechenden Arzt oder Therapeut nicht mehr gehen. Die Gründe waren unterschiedlichster Art und für uns nie wirklich nachvollziehbar.
  

Ein anderes Mal lief der „Schlaganfall“ wie folgt ab. Mein Telefon klingelte, als ich abhob, sprach meine Mutter in einer merkwürdigen Stimmlage. Sie machte eigenartige Geräusche oder sprach Worte nicht ganz aus. Nach ein paar Sekunden legte sie wieder auf und ich guckte dementsprechend blöd aus der Wäsche. Was war das jetzt schon wieder?!

Natürlich ging sie nicht an das Telefon, als ich zurückrief, was dann wieder zur Folge hatte, dass ich zu meinen Eltern musste, um nachzuschauen, was passiert sei. Natürlich war nichts passiert. Meistens hatte meine Mutter vorher Streit mit meinem Vater angefangen, weil er in ihren Augen wieder etwas nicht richtig gemacht hatte und wurde dann „krank“ oder bekam einen ihrer „Schlaganfälle“. Natürlich musste trotzdem der RTW gerufen werden, denn man weiß ja nie!

Irgendwann, im Laufe der Jahre, gewöhnten wir uns alle mehr oder weniger an die Situation, die man so vorfindet, wenn das Telefon wieder klingelte und mein Vater uns darüber informierte, dass er für meine Mutter den RTW gerufen hatte. Ich fragte dann lediglich nur noch nach, was sie diesmal hätte, ließ alles stehen und liegen und ging zur elterlichen Wohnung, um ihn zu unterstützen.

Der Ablauf war grob gesehen eigentlich immer der selbe: Sie war wieder wegen irgendetwas unzufrieden und zettelte Streit an, mal mit mir, mal mit meinem Vater. Irgendwann hatte sie keine Lust mehr auf ihn oder mich und wollte ins Krankenhaus. Sie gab an (!), sie hätte einen Schlaganfall und entweder sie selbst oder mein Vater, der ja wirklich dachte, sie wäre krank, stellten schon mal den Koffer für ihre „Abreise“ an die Tür. Dann veranlasste sie (!), dass wenigstens noch z.B. der Frühstückstisch abgeräumt und der Tisch abgewischt wurde, es solle ja ordentlich aussehen, wenn die Sanitäter kommen.

Als alles vorbereitet war, konnte der Notruf (!) dann abgesetzt werden. Wir bekamen Anweisungen von meiner Mutter, dass die Sanitäter aber nicht mit ihren dreckigen Schuhen in der Wohnung herumlaufen sollten. Natürlich habe ich diese Anweisung ignoriert, aber da kann man mal sehen, was sie für Gedankengänge hatte.
  

Wenn es ganz abenteuerlich wurde, malte sie kryptische Zeichen, die Buchstaben sein sollten, auf einen Zettel, weil sie ihren Mund angeblich nicht mehr bewegen konnte. Ich erinnere mich gut an einen der letzten „Schlaganfälle“, den sie hatte, da hielt sie ihre Lippen krampfhaft geschlossen und sagte durch die geschlossenen Lippen „Ich kann nicht sprechen“. Ich hatte dann sehr trocken erwidert: „Dann mach den Mund auf.“ Danach machte sie diese Nummer nie wieder und ging zu dem Zettel mit den kryptischen Zeichen über, die ich mittlerweile ebenfalls rigoros ignoriere.

Anhand meiner Erzählung kann man sicherlich schon merken, dass ich ihr ab einem gewissen Zeitpunkt absolut nichts mehr glaubte! Und doch ist man verpflichtet, zu helfen, ansonsten ist es unterlassene Hilfeleistung, das ist das Belastende. Jedes einzelne Mal bin ich also zu meinen Eltern hin und habe mir dieses Schauspiel angeschaut. Sie mit ihrem „Schlaganfall“, die immer noch die Situation kontrollierte, mein Vater daneben, meist völlig hilflos, überfordert, in großer Sorge, was nun mit ihr passieren würde. Denn er glaubte ihr zu diesem Zeitpunkt immer noch, dass sie so krank sei.

Immer öfter sprach ich bei den Einsätzen mit den Sanitätern und gab an, dass ich Zweifel an ihren Aussagen hätte, sprach mit ihnen alleine. Gab auch an, dass hinter ihrem Verhalten vermutlich psychische Probleme steckten. Und ich bekam Recht! Den Sanitätern selbst war aufgefallen, dass manche Dinge, die sie bei ihr abfragten, nicht schlüssig seien. So wurde ich von Einsatz zu Einsatz mutiger und sprach diese Thematik immer häufiger an. Trotzdem musste der RTW sie natürlich mitnehmen.
  
Von den vielen, vielen Schlaganfällen, die sie hatte und die sie immer wieder in die Stroke Unit brachten ist – oh Wunder – nichts zurückgeblieben, überhaupt nichts. Sie ist also ein medizinisches Wunder, so könnte man es sagen. Sie erzählt auch immer gerne, dass sie schon viele Schlaganfälle hatte – die Blicke, die sie bei anderen Menschen dafür erntet, kann man sich sicherlich vorstellen.

Sehr traurig war nach dem Rettungswagen-Einsatz oft das Nachgespräch mit meinem Vater, in dem ich ihn erst mal wieder auffangen und aufbauen musste. Er machte sich allerlei Vorwürfe, glaubte meiner Mutter, dass sie so krank sei. Hatte totale Angst, dass sie nicht mehr zurückkommen würde. War aber auch traurig, weil sie ihn teilweise schwer beschimpft und beleidigt hatte. Aber ich konnte nichts an dieser Situation ändern, ihm nur Gespräche anbieten.
  

Hilfsmittel und Show: Wenn der Nutzen zur Nebensache wird (16) »