Die Doppelmoral der Krankheit: Versteckte Wahrheiten, offene Lügen (3)


Irgendwann, es muss in meiner Grundschulzeit gewesen sein, sah ich zufällig, wie sie mit einer Handvoll Keksen kauend ins Badezimmer huschte und die Tür verschloss. Ich war irritiert, konnte aber damit nichts anfangen. Wieso durfte sie Kekse essen? Ich dachte, das verträgt sie alles nicht?

Gelegentlich fielen mir die nächsten Jahre immer wieder Kleinigkeiten auf, die hinsichtlich ihrer „Erkrankung“ keinen Sinn machten. Wenn sie z.B. Abendbrot vorbereitete und wir nicht in der Küche waren, sie nicht damit rechnete, dass ich die Küche kam, sah ich sehr häufig, wie sie sich Käse, Wurst oder sonstiges in den Mund schob. Schnell, hastig, gierig. Wollte ich in der Küche bleiben, schickte sie mich wieder raus. Je älter ich wurde, um so mehr verstand ich, wie sie ihre „Diät“ so durchhalten konnte. Sie aß ganz normal, wenn keiner von uns etwas mitbekam und sobald wir dann gemeinsam eine Mahlzeit einnahmen, löffelte sie wieder ihre „Pampe“.
  

So konnten wir doch häufig auswärts essen, obwohl sie das ja „eigentlich nicht vertrug“. Aber immer mit Sonderbestellungen und zwar so, dass das auch wirklich jeder mitbekam, auch die anderen Gäste. Dabei erzählte sie dann auch gerne völlig Fremden, dass sie nichts vertragen würde, wie arm sie dran sei und und und. Mir waren solche Situationen immer unangenehm und peinlich. Aber auch dieses Verhalten war situationsabhängig. Hatte sie gute Laune, konnte sie alles essen, McDonalds, Pizza, „normales Essen“ und und und. War sie „verstimmt“, ging sie zu ihrer Diät über oder boykottierte auch gerne, dass mein Vater und ich auswärts aßen.

Bei McDonalds z.B. begann sie dann am Tisch, den Burger auffällig auseinanderzunehmen. Sie zerlegte diesen in die einzelnen Komponenten, entfernte sofern vorhanden die Panade, tupfte wirklich sehr auffällig das Fett ab und sprach dann auch sehr laut darüber, wie viel Fett so ein Burger hat und dass sie diesen so nicht vertragen kann. Hatte ein Burgerbrötchen Körner, pulte sie diese Körnchen für Körnchen ab. Bei den Pommes wischte sie mit einer Serviette von jeder einzelnen Pommes aufwendig Salz und Fett ab. Sie musste aber stets bei unseren Burgern probieren, ebenfalls sehr auffällig und quer über den Tisch. Immer mussten wir sie entweder von unserem Essen abbeißen lassen oder ein Stück abgeben, auch bei anderen Gerichten oder Restaurants. Danach sagte sie immer, wie gut doch unser Essen schmecken würde und sie das halt nicht darf, weil sie das ja nicht verträgt und alles Fett, Panade, Körner, etc. immer entfernen muss. Ihr Arzt hätte ihr das so gesagt.

Zum Schluss musste man ihr immer noch einen Kaffee und einen Kakao bei McDonalds bestellen (denn sie bestellt natürlich selbst nichts, sondern lies bestellen!). Dazu wollte sie immer noch einen leeren Becher. Diese beiden Getränke mixte sie dann am Tisch auch sehr auffällig zusammen, später dann auch mit auffälligem und häufigen Verplempern. So mussten wir los, Servierten holen, um das alles wegwischen zu können.
  

Auch bei anderen Gelegenheiten, bei denen wir auswärts aßen, gab es immer eine Sonderbestellung für sie, egal welcher Art. Natürlich „vertrug“ sie auch kein Getränk, dass es zu den Mahlzeiten auswärts gab (trank aber Kakao und Kaffee bei McDonalds!). Also nahm sie immer Babyfläschen (ohne Nuckel!) mit, die sie eigens dafür gekauft hatte, befüllte diese mit Tee und packte sie bei Tisch im Restaurant aus. Da sie kalten Tee nicht mochte, wurde das Babyfläschchen in eine Thermo-Ummantelung gepackt. Da die Babyfläschchen angeblich nie dicht waren, befanden sich diese immer noch in Tütchen, diese waren mit einem Verschluss zugemacht.

Bei der Bedienung gab sie stets an, dass sie die normalen Getränke nicht vertragen würde und deswegen ihr eigenes Getränk mitgebracht hatte. Aber anstatt dieses dann ausgepackt zu lassen, wurde es jedesmal umständlich wieder eingepackt und bei Bedarf ausgepackt. Irgendwann mussten wir dabei Handreichungen machen und ihr helfen. Wie auffällig wir damit waren, brauche ich nicht zu erwähnen. Meine Frage, warum es Babyfläschchen sein mussten, warum keine Isolierkanne oder eine „normale“ Flasche hat sie mir nie beantwortet. Jahre später ging sie dann zu einer Isolierkanne über, was die Sache aber nicht wirklich besser machte und genauso auffällig war.

Irgendwann ging sie dann dazu über, dass sie überall Kamilletee bestellte. Sie würde keine andere Teesorte vertragen, ihr Magen wäre so „schlimm“. Die wenigsten Restaurant bzw. Kantinen etc. hatten Kamilletee zu dieser Zeit und natürlich wusste meine Mutter das. Die Gespräche, die sie daraufhin mit dem Personal führte waren immer die selben, sie zeigte starke Enttäuschung über die Tatsache, dass man ihr keinen Kamilletee anbieten könnte und sie könne nun nichts trinken.

Daraufhin fragte sie leicht entrüstet, ob man ihr zumindest ein Kännchen mit heißen Wasser bringen könnte, entweder hatte sie dann einen Teebeutel von daheim mitgebracht oder sie trank das Wasser dann so. Gelegentlich bestellte sie dazu einen anderen Tee und verdünnte sich diesen mit dem heißen Wasser am Tisch. Als wir bezahlten, stellte sie auch gerne die Frage, ob man ihr das warme Wasser berechnen würde und erwähnte dabei, dass sie ja nichts dafür könne, wenn man keinen Kamilletee hätte.
  

Manches Mal aßen wir auswärts und plötzlich konnte sie nicht mehr mitessen. Sie saß dann dabei, aß hauchdünne Scheiben Maiswaffelbrot aus dem Reformhaus und guckte uns zu. Vorwurfsvoll. Kommentierte auch häufig dabei, wie gut wir es doch hätten, wie schlecht es ihr doch ging. Oder sie legte im Restaurant eine Scheibe von ihrem mitgebrachten Essen auf das bestellte Essen. Begründung: Das würde das Fett aufsaugen. Die Scheibe aß sie aber mit.

Wir waren häufig auswärts essen, obwohl sie ja eigentlich nicht auswärts essen konnten! Trotzdem war das sehr oft ihr eigener Vorschlag, da sie dann daheim natürlich nicht kochen brauchte – es war halt bequem.

Häufig kippte nach den Mahlzeiten ihre Laune, sie schloss sich Ewigkeiten ins Badezimmer ein, wir konnten selbst nicht zur Toilette gehen in der Zeit. Angeblich hätte sie starken Durchfall gehabt, kam nicht vom Klo. Mir kam das merkwürdig vor, denn so manches Mal riecht man auch trotz offenen Fenster, dass jemand Durchfall hatte. Nicht bei ihr.
  

Mussten wir in dieser Zeit, in der sie sich ins Badezimmer einschloss, selbst auf Toilette, hatten wir halt Pech. Irgendwann klopfte mein Vater dann an die Toilettentür, man kann ja nicht ewig anhalten. Sie reagierte nicht. Nach mehrmaligen klopfen und rufen öffnete sie die Tür, schnauzte meinen Vater an und gab die Toilette frei. Als das öfter der Fall war, verbot sie meinem Vater irgendwann, sie anzusprechen oder gar an die Tür zu klopfen, wenn sie „auf Toilette“ war. Wir mussten dann aushalten, bis sie das Badezimmer von sich aus freigab. Es befanden sich keinerlei Zeitschriften oder sonstiges im Badezimmer. Auch heute noch schließt sie sich gerne für lange Zeit dort ein. Mir ist nach wie vor schleierhaft, was sie darin so lange macht.

Speisen und Getränke verdünnen wurde immer mehr ein Thema. Nicht nur für sich, auch für uns. Kochte sie, modifizierte sie auch unsere Mahlzeiten immer mehr. Immer weniger Fett, immer weniger Salz, bis es irgendwann nicht mehr wirklich schmeckte. Getränke wurden verdünnt, in Fertig-Suppen kam Wasser hinein. Bei Frikadellen schnitt sie die angebratenen Seiten ab, denn diese lagen ja im Fett und wären somit zu fettig. Beim Kuchen schnitt sie die Glasur ab oder wischte den Puderzucker runter, bei Brat- und Bockwurst schnitt sie die Pelle ab, denn die sei zu hart. Die Streusel vom Kuchen wurden entfernt. Ich könnte zig Dinge aufzählen.
  

Nach und nach wurde es immer schlimmer. Lange Zeit durfte ich als Kind keine Süßigkeiten essen, nicht zu kalt, nicht zu fett, keine Kohlensäure – es entwickelte sich in eine Richtung, die rückblickend betrachtet sehr merkwürdig war.

Ich erwähnte ja bereits zu Beginn, dass ich mir sicher bin, sie hätte durchaus auch das Münchhausen-by-Proxy-Syndrom, also das sogenannte Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom entwickeln können. Bei dieser Form der Erkrankung werden bei einem anderen Menschen (häufig dem eigenem Kind) Krankheiten vorgetäuscht oder auch bewusst herbeigeführt, z.B. durch Medikamente, damit eine medizinische Behandlung erfolgt. Ist ein Kind involviert, spricht man dabei (zu Recht) von Kindesmisshandlung.

Ich erinnere mich an viele Arztbesuche beim Kinderarzt, mit ähnlichen undefinierten Krankheitsbildern wie bei ihr. Ich erinnere mich auch daran, dass ich als kleines Kind häufig Bauchschmerzen hatte, teilweise sehr heftig, die auch sehr plötzlich kamen. Warum kann ich nicht nachvollziehen und ist für mich auch im Nachhinein nicht schlüssig. Meine Mutter war natürlich in den Stunden, als mein Vater arbeitete, alleine mit mir und es fiel nicht auf. Was ich aber weiß ist, dass meine Bauchschmerzen in der Zeit begannen, als ich mit ihr alleine war und sie dann immer meinen Vater auf der Arbeit anrief. Dieser musste uns dann nach der Arbeit zum Kinderarzt fahren. Ich erinnere mich noch gut, als mein Bauch deswegen wieder einmal von Kinderarzt abgetastet wurde. Er machte daraufhin eine Ultraschalluntersuchung und sagte zu meiner Mutter: „Der Magen ist leer, so wie es aussieht, hat sie einfach nur Hunger.“ Er sprach eine Zeit mit ihr, da mein Vater dabei war, schlug dieser dann gleich McDonalds vor. Ich fand die Idee super, meine Mutter musste einwilligen, wie hätte sie sonst dagestanden.

Wir fuhren also danach nach McDonalds, ich bekam zu Essen und meine Bauchschmerzen verschwanden. Ein merkwürdiges Phänomen, wenn ich darüber heute nachdenke.
  

Ich weiß, dass meine Mutter mich jahrelang auf Diät gesetzt hatte, sehr vermutlich auch unbegründet. Sie hatte einen weiteren Weg gefunden, mich dahingehend zu kontrollieren. Aßen wir auswärts, mussten die Nudeln ohne Fett gekocht sein. Gab es Hähnchenschenkel, musste ich die Haut entfernen oder sie machte es.

War ich beim Kindergeburtstag eingeladen, gab es für mich immer spezielle Anweisungen, die Mutter des Geburtstagskind wurde von meiner Mutter im Vorfeld genauestens instruiert. Es gab strenge Auflagen für mich, ich durfte nur wenig essen. Immer stand ich damit ein wenig im Abseits, fühlte mich als Außenseiter, bekam ungewollte Aufmerksamkeit. Meine Mutter klopfte genau ab, was es beim Geburtstag zu essen gab und sagte der anderen Mutter klipp und klar, was ich essen durfte und was nicht. Bei den Wiener Würstchen keinen Ketchup oder Mayonaise dabei, kein Schokokuchen, nur Sandkuchen, aber nur ein Stück, an dem nicht so viel Puderzucker oder Glasur drauf war und und und.

Beim Topfschlagen z.B. war dann für mich unter dem Topf nicht wie bei den anderen Kind z.B. ein Schaumkuss versteckt, das weiß ich noch, sondern ein Apfel oder nur eine ganz kleine Süßigkeit, damit ich wenigstens ein bisschen was hatte oder auch mal gar nichts. Nach dem Geburtstag fragte meine Mutter mich natürlich aus, was ich gegessen hatte. Ich erinnere mich an Situationen, an denen ich meine Zunge rausstrecken musste, um ihr zu zeigen, dass ich z.B. keine Süßigkeiten gegessen hatte, denn einige verfärbten damals schon die Zunge und man konnte das sehen.

Die meisten Mütter glaubten meiner Mutter natürlich, dass ich so krank sei und nichts vertragen würde, sie hielten sich an die Auflagen. Durfte ich doch mal etwas heimlich essen beim Geburtstag, fragte meine Mutter beim nächsten Treffen die anderen Kindern, die auch bei diesem Geburtstag waren, was „wir denn so“ da gegessen hätten. Ganz beiläufig fragte sie die Kinder dann, ob ich auch z.B. etwas vom Schokoladenkuchen gegessen hätte (den ich ja angeblich nicht durfte). Natürlich verplapperten sich die anderen Kinder meistens und ich bekam eine Menge Ärger, wenn ich doch mal heimlich etwas auf dem Geburtstag essen durfte.
  

Wir lebten in der Nähe einer Kirche. Meine Freunde und ich gingen am Wochenende oft zum Kirchplatz, wenn dort Hochzeiten stattfanden. Das Brautpaar warf oftmals nach der Trauung Kleingeld und wir konnten „Groschen grabschen“, so hieß es bei uns. Wenn wir Glück hatten, bekam jeder 1DM – 1,50DM. Ich wollte das Geld aber nie mit nach Hause bringen, da ich in den seltesten Fällen alleine darüber entscheiden durfte. Alles musste ja von ihr abgesegnet werden, sie war da sehr hart. Außer ich wollte mal auf eine Hörspielkassette sparen, aber auch da musste ich immer bei ihr betteln, bis sie es erlaubte. Süßigkeiten durfte ich auf keinen Fall kaufen, weil ich diese ja nicht vertrug. Sagte sie.

Also gab ich das gesamte gesammelte Geld nach der Hochzeit sofort am Kiosk aus und aß alles auf einmal. Für das Geld bekam man damals noch eine ordentliche Menge! 10 – 15 Wassereis oder eine schöne Tüte voller Veilchen und anderen Süßigkeiten. Wir setzten uns heimlich in irgendeine Ecke draußen hin, damit wir nicht von irgendwem entdeckt wurden, denn meine Angst war immer dabei, meine Mutter selbst oder ein Nachbar könnte sehen, wie ich etwas heimlich esse.

Nun hätte ich nach diesen vielen verbotenen Süßigkeiten ja die schlimmsten Durchfälle und Magenschmerzen haben müssen, da ich ja angeblich so etwas alles nicht vertrug … NIE hatte ich etwas danach, in all den Jahren! 1 oder 2x danach war mir schlecht, das lag aber dann eher daran, dass ich mir die ganze Tüte mit Süßkram auf einmal einverleibt hatte.

Als ich mutiger wurde, kaufte ich mir heimlich eine Kugel Eis im Hörnchen, auch mal eine Pommes mit Mayonaise. Auch danach blieben die angekündigten Magenschmerzen und der Durchfall aus. Ich weiß noch, wie aufgeregt ich war, als ich mir das erste Mal diese Sachen kaufte, weil ich wirklich dachte, mir würde es danach total schlecht gehen!

Sie kam irgendwann dahinter, die Taschenkontrollen fingen an. Ich musste ihr jedesmal, wenn ich nach Hause kam, die Innenseiten meiner Hosen- und Jackentaschen zeigen. Sie roch an mir, ob ich in irgendeiner Pommesbude war oder sonstwie auswärts gegessen hätte.
  

In der weiterführende Schule dann ging ich aufgrund der Nähe zur Schule in der Mittagspause eben schnell heim, um dort Mittag zu essen. Meine Mutter wollte das so, andere durften in der Mensa der Schule essen. An den meisten Tagen, wenn ich also in dieser begrenzten Zeit Mittagessen wollte, war das Essen nicht fertig. Ich hatte Hunger, durfte aber nie alleine an den Kühlschrank oder wenigstens eine Kleinigkeit in den Mund stecken. Ich musste warten, obwohl sie genau wusste, wann ich nach Hause kam. Und das, obwohl ihr absolute Pünktlichkeit bei anderen stets wichtig war! Oftmals musste ich dann relativ schnell mein Mittag essen, da ich halt pünktlich wieder in der Schule sein musste.

Jahre später konnte ich endlich durchsetzen, dass ich in der Schule zu Mittag essen durfte. Es gab 2 Wahlgerichte. Was ich aß, musste ich aber mit meiner Mutter abstimmen. Natürlich vertraute sie mir nicht. Zu den Mahlzeiten konnten wir Kinder uns in der Mensa einen Becher Tee bei der Teeausgabe nehmen. Um die Teeausgabe kümmerten sich meist Mütter anderer Kinder. Und so kam es, dass natürlich meine Mutter nun in dieser Teeausgabe mithalf. SO konnte sie genau kontrollieren, was ich Mittags aß.

  

Flucht vor dem Streit: Wie Manipulation unser Familienleben prägte (4) »