Der Beginn des Münchhausen-Syndrom: erste Anzeichen (1)


Der Beginn des Münchhausen-Syndrom ist nicht leicht zu erkennen, es dauert, bis man erste Anzeichen für diese komplexe Verhaltensstörung feststellt. Natürlich kann ich diesen Erfahrungsbericht über das Münchhausen-Syndrom nur aus meiner Sicht, der Sicht ihrer Tochter erzählen. Vieles machte zum jeweiligen Zeitpunkt der Ereignisse erstmal überhaupt keinen Sinn. „Dinge“ passierten einfach so, man nahm es mehr oder weniger hin, gelegentlich wunderte man sich.

Niemand dachte damals an das Münchhausen-Syndrom und dass wir als Familie einmal so sehr darunter leiden würden. Denn bei dieser Form der psychischen Erkrankung braucht der Erkrankte sehr viel Aufmerksamkeit, eine „Bühne“ für Lügen und Selbstverletzungen. Wirklich kranke Menschen ziehen sich doch häufig zurück, nicht aber meine Mutter: Sie blühte förmlich auf, sobald sie „krank“ wurde und stellte sich in den Vordergrund.

Viele Jahre wussten wir als Angehörige nicht, um welche Erkrankung es sich dabei eigentlich handelte. Nach und nach kam die Persönlichkeitsstörung immer mehr durch. Ihre Erzählungen über den Krankheitsverlauf wurden immer spektakulärer. Ärzte-Hopping begann. Immer wieder wechselte sie Fach-Ärzte, mein Vater fuhr sie in die nächsten Städte zum Arzt, vermutlich weil sie bei den Ärzten in der Nähe schon aufgefallen war. Sie setzte die Familie enorm unter Druck, forderte, dass jeder auf sie Rücksicht nehmen muss, weil sie ja so schwer erkrankt sei. Irgendwann fielen uns aber immer mehr Ungereimtheiten auf.
  

Als meine Mutter vor über 40 Jahren krank wurde, dachte niemand an das Münchhausen-Syndrom. Es fing ganz klein und unauffällig an. Ich selbst war zu der Zeit noch ein Kind. Meine Mutter gab an, sie müsse sich aufgrund einer Erkrankung eine Zeit komplett salzfrei ernähren. Meine ersten Erinnerungen dahingehend sind bei einem Urlaub, ich muss zu dem Zeitpunkt ca. 4 Jahre alt gewesen sein. Durch diese „Erkrankung“ bekam sie wohl viel Zuwendung und Aufmerksamkeit, so vermute ich es mal im Nachhinein.

Rückblickend betrachtet denke ich, dass das Münchhausen-Syndrom auch gut in ein Münchhausen-Stellvertretersyndrom hätte umschlagen können. Ich erinnere mich an viele Ungereimtheiten in meinen jüngsten Jahren, die darauf hinweisen. Vermutlich stellte damals aber irgendwer, evtl. mein Kinderarzt oder mein Vater, fest, dass etwas an den Erzählungen meiner Mutter nicht stimmen konnte, wenn ich „angeblich“ mal wieder krank war.

„Nicht-mitessen-können“ wurde ein Dauer-Thema in unserer Familie. Anfänglich logisch und nachvollziehbar. Jeder nahm Rücksicht darauf, bemitleidete und bedauerte sie. Aßen wir auswärts, mussten wir für sie eine Sonderbestellung aufgeben. „Ohne Soße“, weil sie diese nicht vertrug, das Gemüse ohne Butter, nicht immer war es einfach umzusetzen. Schnitzel und Kroketten bitte ohne Panade, sonst musste sie das mühselig abpulen.

Meine Eltern stritten sich zu dieser Zeit bereits viel. Ich hatte als kleines Kind etliches davon mitbekommen. Meine Mutter warf meinem Vater immer alles mögliche an den Kopf. Er würde dieses und jenes falsch machen, sich zu wenig um sie kümmern und und und. Mein Vater nahm immer mehr Rücksicht auf sie und gab kleinlaut bei, denn sie hatte ja die besseren Argumente: Sie war krank! Auf mich machte sie schon damals nicht den Eindruck einer „Kranken“, sondern eher einer Person, die einfach nur ihren Willen durchsetzen wollte – egal wie und ohne Rücksicht auf Verluste.

Irgendwann ging es ihr trotz ihrer Diät immer schlechter. Sagte sie. Sie bekam eine strenge Diät vom Arzt verordnet. Sagte sie. Eigentlich durfte sie kaum noch etwas essen, das erzählte sie uns so. Alles nur noch fett- und salzarm. Außerdem keine Hülsenfrüchte mehr, keine Milchprodukte, kein frisches Brot, süße Sachen auch nicht, kein Kohl, keine Wurst, kein Fleisch, dies und jenes erst Recht nicht … die Liste war lang. Nicht, dass es eine geschriebene Liste gab, nein. Das waren alles Dinge, die sie uns erzählte. Dinge, die ihr Arzt zu ihr gesagt hätte.

Beim Arzt gab sie damals immer wieder an, sie würde „nichts mehr bei sich behalten“ und würde „immer weiter abnehmen“. Sie bekam daraufhin eine zur damaligen Zeit erhältliche Flüssignahrung verschrieben. Was sollte der Arzt auch anderes machen, wenn sie ständig angab, dass sie nichts mehr essen konnte?

Im Vorratsschrank wurde dafür Platz gemacht, das war eigentlich der Anfang, als das Münchhausen-Syndrom auch räumlich bei uns einzog. Fortan aß meine Mutter zu vielen Mahlzeiten – aber nicht immer – diese Flüssignahrung, die sie angeblich aber auch nicht vertrug, da Geschmacksrichtung Kakao. Deswegen verdünnte sie diese zur Hälfte mit Wasser und bröckelte altes Brot hinein, denn frisches Brot würde sie auch nicht vertragen, sowie zerbröckelten Zwieback. Auch Haferflocken kamen an manchen Tagen in diese „Suppe“. Ich durfte das mal probieren und der Geschmack war einfach nur unangenehm. Sie sagte darauf hin: „Ich bin ja froh, wenn überhaupt irgendwas drin bleibt!“ und aß diese Pampe weiter. Damit erregte sie natürlich Mitleid.
  

Da sie angab, sie würde die Geschmacksrichtung Kakao/Schokolade nicht „vertragen“, bekam sie die Sorte „Vanille“. Bei dieser Sorte sah man durch die braunen Glasflaschen gelegentlich, dass sich von der Flüssigkeit etwas am Boden abgesetzt hatte. Ab diesem Zeitpunkt wurde wirklich aufsehenderregend jedes Mal in der Apotheke, bei Abholung der Flüssignahrung und mit viel Spektakel jeder einzelne Karton geöffnet, jede einzelne Glasflasche gegen das Licht gehalten und das MHD kontrolliert. Der Apotheker, mein Vater und sie. Später ging sie dann sang- und klanglos doch wieder zur Geschmacksrichtung Kakao/Schokolade über und ihre Unverträglichkeit dahingehend war kein Thema mehr.

Die Jahre vergingen, diese Form der Ernährung blieb. Wir waren irgendwann an einem Punkt, an dem sie eigentlich nichts mehr essen durfte. Immer häufiger hörten mein Vater und ich solche Sätze wie „Ich kann dies und jenes nicht, mein Bauch ist so schlimm“ oder „Ich hab solche Durchfälle, ich komm gar nicht vom Klo“. Natürlich sind das alles Dinge, die wir nicht wirklich überprüfen konnten und ganz ehrlich: Wenn einem jemand so etwas erzählt, glaubt man ihm doch erst mal, oder?!
  

Auffällig war zu diesem Zeitpunkt allerdings für mich schon damals, dass sich ihr Zustand immer den angenehmen oder unangenehmen Dingen anpasste. Standen Dinge an, die sie gerne machen wollte, ging es ihr gut (das gab sie aber natürlich nie zu!), sie konnte auch alles essen. Mussten „unangenehme“ Dinge verrichtet werden oder sie hatte darauf keine Lust, ging es ihr wieder schlecht.
  

Kontrolle und Manipulation: Eine Kindheit im Schatten der Krankheit (2) »