„… sagen Sie mal … hat Ihre Tochter auch schon Weihnachtsplätzchen gebacken?“ – Kapitel 1


Ich stehe gerade auf der obersten Stufe der Trittleiter und schaue zufällig aus dem inzwischen gardinenfreien Schlafzimmerfenster hinaus.

Der Nachmittag war bereits vorbei, die früh einsetzende Abenddämmerung beginnt und der Himmel ist dort, wo die tiefstehende Sonne am wolkenlosen Himmel über dem alten Knappschaftskrankenhaus untergeht, mit einem warmen leuchtenden Rot überzogen.

Es ist Adventszeit… das Christkind backt Weihnachtsplätzchen, sagt man bei uns.

Inzwischen habe ich mir circa 18 qm handfeuchte Gardine über den rechten Arm gelegt und bin dabei, mühsam mit der noch freien linken Hand, auf der obersten Leiterstufe freistehend wie ein Zirkusartist auf dem schwankenden Schlappseil, aus dem Wust der gefalteten Gardine das erste von 36 Röllchen in die Laufschiene der unter der Zimmerdecke befestigten Gardinenleiste hineinzufriemeln.

Und ich bekomme den beginnenden Wortwechsel meiner Tochter, aus ihrem Zimmer, mit ihrer Mutter, in der Küche, mit. „Mammaaa… was ist eigentlich… Kardamom?“

Es dauerte einen kleinen Moment, bis meine Frau antwortet und ich überlegte indessen, wer oder was der oder die oder das Kardamom seien kann.

Dabei fummele ich mühselig das zweite Röllchen der meinen Ärmel inzwischen leicht durchfeuchtenden Gardine in die Laufschiene und meine Frau antwortete unter lautstarkem Geschirrklappern aus der Küche. „Weißt du noch im vorigen Jahr, als wir zur Weihnachtszeit bei Wroblewaski eingeladen waren?
Die Plätzchen … die in der Schale auf dem kleinen runden Eichentisch in deren Wohnzimmer… zwischen den beiden weinroten Sesseln mit den Brokatkissen…“

Sogleich entgegnet meine Tochter. „… die mit dem vielen Kandisstücken drauf?“

„Ja… genau…“, pflichtet meine Frau bei, „… die, von denen sich die kleine Gisela nachher drei Stück auf einmal in den Mund gestopft hatte.
Die waren mit Kardamom gebacken…“

„Und wie schmecken geriebene Nelken, Mama?“

Kurze Pause und meine Frau spricht, während sich bei mir ein leichter Krampf wegen der immer schwerer werdenden Gardine im linken Arm bemerkbar macht und ich dabei auch noch in Gedanken versuche, wenigstens nur eine kleine Gewürznelke auf einer ebenso kleinen Reibe ohne Deformierung meiner Fingerkuppen und -nägel erfolgreich zu zerribbeln. „Als wir bei Tante Jutta zum Geburtstag waren, gab es dicke runde Plätzchen mit viel Puderzucker, die…“

Und wieder entgegnete meine Tochter sogleich. „… etwa die, die die Frau Machow aus der Nachbarwohnung zum Kaffeetrinken mitgebracht hatte und die mir damit den ganzen Nachmittag auf den Keks gegangen war, weil sie mir ständig das Backrezept ihrer Großmutter…“

Ruhig antwortete meine Frau. „Genau die.
Deine Oma… also meine Mutter… die hatte übrigens zum Advent auch immer viele leckere Plätzchen… mit Anis und Lebkuchengewürz… oder mit Schokoladenstückchen gebacken.
Kistenweise, kann ich dir sagen… kistenweise!
Und geschmeckt haben die… einfach himmlisch…“

Erneut unterbricht meine Tochter. „… und… wie schmeckt geriebener Fenchel im Plätzchen?“

Mit der Geduld eines Vorweihnachtsengels spricht meine Frau ob des geschmacklichen Themenwechsels weiter – meine diese Diskussion als gardinenaufhängender Außenstehender begleitende Geschmacksvorstellungen über geriebenen Fenchel in Plätzchen brechen urplötzlich ab.

Ich fluchte unweihnachtlich diskret vor mich hin, denn im Eifer des ungewollten und angespannten Zuhörens – ich war gerade beim 19. Röllchen angekommen – habe ich das nicht eingeschobene 8. Röllchen beim Einschieben übersehen.

Somit ziehe ich konzentriert die überzähligen 11 Röllchen wieder aus der Laufschiene heraus und schiebe die restlichen Röllchen erneut hinein.

„… du kannst aber auch jederzeit Margarine statt Butter nehmen…“, ich kann den inhaltlichen Sprung des Gespräches meiner Frau mit unserer Tochter nicht ganz nachvollziehen – geschweige denn die Antwort meiner Tochter. „… und wenn ich ein Ei mehr nehme… schmeckt es dann besser?“

„Sicher…“, entgegnete meine Frau locker, „… dafür lässt du zwei bis drei Löffel Wasser weg.
Die Teigmenge bleibt dann ungefähr gleich, damit…“

Der Krampf im Arm lässt langsam nach, ich schaue zum restlichen Teil der auf meinen inzwischen pitschnassen Ärmel liegende Gardine und beiße die Zähne zusammen.

Wieder hatte ich ein Röllchen beim Einschieben übersehen und muss einige bereits eingeschobene Röllchen aus der Laufschiene herausziehen und neu beginnen.

„… wenn ich aber weniger gehackte Nüsse nehme… und dafür mehr Zuckerrübensirup… kann ich trotzdem das eine Ei mehr nehmen…“, führt meine Tochter das Gespräch weiter fort und meine Frau antwortete wieder ruhig, „… du kannst auch etwas weniger Mehl nehmen.
Und dafür ein bisschen mehr Kartoffelmehl, damit wird…“

„… und das eine Ei?
Macht das gewichtsmäßig so viel aus?“, unterbricht meine Tochter erneut.

Mir platzte der berühmte Papierkragen, denn ich stellte erschreckt fest, genau das 13. Röllchen war von mir verdreht eingeschoben worden und die Gardine hob sich an dieser Stelle etwas ab… und ich war gerade beim 29. Röllchen angekommen.

„Wenn du das Gewicht eines Ei´s ausrechnen willst, bevor du es in den Teig haust…“, platze ich genervt dazwischen und balanciere mühsam auf der obersten Stufe der Leiter meine Körperhaltung aus, denn etwas Feuchtigkeit der restlichen Gardine ist durch meinen hochgehobenen Arm und dem Ärmel seitlich über meine Körperseite in meine Hose hinab und nun das Bein entlang nach unten bis in meine Strümpfe gelaufen, „… dann ziehe vom Gesamtgewicht des Ei´s das Gewicht der Schale ab.
Das spezifische Gewicht für Kalk findest du im Tabellenbuch auf dem Schreibtisch… den Inhalt kannst du mit meinem neuen wissenschaftlichen Taschenrechner wegen meiner algebraisch oder ich-weiß-nicht-wie-trigonometrisch bequem ausrechnen.

Der Taschenrechner ist in meiner Aktentasche.
Die Eischale ist ungefähr drei Millimeter dick.
Und die elektronische Küchenwaage steht übrigens im Kämmerchen auf dem dritten Regalbrett von unten…“

Ein Moment ist Stille und meine Tochter ruft, scheinbar erfreut, was mich kurzfristig verwundert. „Prima, Paps!
Die Idee ist echt gei… äh… ich meine… echt Spitze!
Danke!“