Die Zeit nach seinem Tod


Die ersten Stunden nach dem Tod meines Vaters war ich einfach nur erschöpft. Ich hatte so um seine Gesundheit gekämpft die letzten 6 Wochen, so vieles versucht, ihm aufgezeigt, wie schön und lebenswert das Leben trotzdem noch sein kann. Und das alles war umsonst, er starb trotzdem. Ich konnte es nicht fassen. Er war einfach nicht mehr da. Mein Papa, der ein Leben lang immer für mich da war, war gegangen.

Und ich war alleine mit meiner Mutter.
Alles, was er bislang abgefangen hatte, ihre ganzen Eskapaden, Wutausbrüche, Lügen, Manipulationen und sonstige Spielchen prasselten nun ungefiltert auf mich ein. Obwohl ich mir sicher war, dass ich ihr Verhalten sehr gut kannte, war es erschreckend mit anzusehen, wie sie eigentlich wirklich ist, so ganz „ungefiltert“.
  

Meine Mutter und ich räumten noch am selben Tag im Seniorenheim sein Zimmer leer, es war ein furchtbares Gefühl. Ich musste die ganze Zeit dabei unentwegt weinen. Sie hielt es wohl für eine wohltuende Abwechslung gegen ihre Langeweile, so war mein Gefühl. Keine Empathie, keine Traurigkeit. Kaltherzig. Sie wirkte fast schon zufrieden. Nur, wenn jemand hinzukam, z.B. das Pflegepersonal, wurde sie weinerlich und schluchzte. Tränenlos. Auffällig und laut, damit es jeder mitbekam.

Als wir vor dem Seniorenheim mit all seinen Sachen saßen und auf das Taxi warteten, wirkte sie zufrieden. Sie genoss die Sonne, fand das alles so nett und überhaupt. 8 Stunden nach seinem Tod. Keine Spur von Trauer. Mir fiel der Abschied von diesem Haus unheimlich schwer, denn wenn er auch nur kurz in diesem Haus lag, so war es doch eine gute Zeit. Wir machten nur gute Erfahrung, man ging so sehr auf ihn ein und respektiere seine Wünsche. Aber davon bekam sie ja kaum etwas mit, es interessierte sie ja auch nicht.
  

Am nächsten Morgen, einen Tag nach seinem Tod, ging ich in die elterliche Wohnung. Mein Entschluss stand fest, bevor sie Zeit hatte, seine persönlichen Dinge zu verschenken oder wegzuwerfen, baute ich seinen Rechner ab, nahm alle seine Datenträger an mich und brachte diese Dinge in meine Wohnung. Ich hatte meine Mutter auch nicht gefragt, ob ich das „durfte“. Das war mir sowas von egal, ich wollte seine Daten retten!

Sein Tablet und Handy hatte ich bereits direkt nach seinem Sturz an mich genommen, um seine Privatsphäre wenigstens hierbei zu schützen. Wir beide wussten ja, dass sie alles durchsuchte und ihr Kontrollzwang und Neugierde immer schlimmer wurde. Mit seinem PC kannte sie sich zum Glück ja nicht aus.

Zwar hatte er einen Pincode auf Handy und Tablet aktiviert, als Schutz vor ihrer Neugierde und mir diesen auch mitgeteilt, wohl war mir aber trotzdem nicht, wenn seine Geräte bei ihr lagen. Vielleicht hätte sie diese auch entsorgt oder verschenkt, bei einem Wutanfall mal zerstört – man weiß es nicht.

Ich wusste um seine vielen Geschichten, die er geschrieben hatte. Persönliche Gedanken, die er gelegentlich aufschrieb. Das alles wollte ich erhalten!

Seine Geschichten waren seine Zuflucht, der einzige Ort, an dem sie nicht hinkam. So viel Arbeit, die er da hineingesteckt hatte, das durfte einfach nicht verloren gehen.
  

Nachdem ich seine Sachen bei mir hatte, erstellte ich als erstes ein Backup von all seinen Daten und sicherte seine Accounts. Immer wieder musste ich dabei an seine erste Geschichte denken, die er schrieb – „Bagoyi“.

Vor vielen, vielen Jahren schrieb er diese Geschichte, zu Zeiten, in denen PCs noch nicht so populär waren wie heute. „Bagoyi“ existierte lange Jahre nur noch ausgedruckt auf Thermopapier. Als die Schrift auf diesem Papier so langsam verblasste und Bagoyi somit für immer verloren wäre, schrieb ich ihm den gesamten Roman des Ausdrucks ab. Wort für Wort, weit über 100 Kapitel.
  

Und mir kam eine Idee … ich wollte ihm posthumen das ermöglichen, was zu Lebzeiten einfach nicht möglich war – sein eigener Blog. Mit seinen Erzählungen, seinen Gedanken, seinen Geschichten. Und: Seiner (Lebens-)Geschichte!

Die Geschichte um den Autor herum erzählen. Damit er, der immer klein gehalten wurde, Beachtung erfährt, wenn auch nur im Nachhinein.

Ein sicherer Ort, an dem „sie“ nicht sein kann. Sich nicht einmischen und nichts kaputt machen kann. Und wichtiger: Ihm nichts mehr vorschreiben kann.
  

Und so erwarb ich die Domain bagoyi.de und legte gleich los mit der Schreiberei. Und ich freue mich, dass wir ihn hier weiterleben lassen können. Ohne ihr Wissen. Ein „Safe-Place“.

Auf dieser Webseite darf er sein. Und bleiben. Denn das ist sein Platz, sein Raum. Für seine Gedanken und Worte. Auch Worte über ihn. Um seine Geschichte verständlich zu machen. Und ich weiß, wie sehr er sich darüber gefreut hätte.