Wie er starb


Eigentlich hatte im Frühling 2024 ein neues Kapitel angefangen. „Sie“ hatte mal wieder die Nase voll und einen erneuten Unfall provoziert. Dabei warf sie sich wohl hin und schaffte es auch, sich etwas zu brechen. Sie war dabei sogar so (un)glücklich gefallen, dass der Bruch operiert und mit einer Platte versorgt werden musste. Aber ich kannte meine Mutter – darauf war Verlass: Wenn sie sich etwas „tat“, dann so, dass sie dadurch später zwar als noch kränker auftreten kann, aber keine großen Einschränkungen haben würde – zumindest versuchte sie es.

Aufgrund des Sturzes folgte natürlich wieder einmal ein RTW-Einsatz, ein Krankenhausaufenthalt mit anschließendem Reha-Aufenthalt und danach noch 3 Wochen in der Kurzzeitpflege. Zwischenzeitlich musste sie aus der Reha immer mal wieder ins Krankenhaus zurück (Reha war noch nie so ihr Ding!), so dass sie insgesamt ganze 3 1/2 Monate nicht daheim war.

Diese Zeit ohne sie war unheimlich erholsam. Mein Vater blühte immer mehr auf, ich ließ ihm den Freiraum, den er brauchte, war aber trotzdem da, wenn etwas war. Natürlich war ich immer etwas in Sorge, da er sturzgefährdet war, wollte aber auch, dass er die freie Zeit endlich mal selbstbestimmt leben konnte. Und das machte er auch! Woche für Woche ging es ihm besser. Hatte sie ihn am Telefon oder bei einem seiner Besuche wieder mal zu sehr unter Druck gesetzt, brauchte er einen Tag Auszeit und legte sich erschöpft immer mal wieder hin – aber insgesamt gesehen war er sehr positiv gestimmt. Freute sich des Lebens. Ging viel auswärts Essen. Kam endlich mal wieder dazu, einige Dinge am PC aufzuschreiben, die im schon lange im Kopf herumschwirrten.

Irgendwann kam das Thema auf, dass meine Mutter vielleicht nicht mehr zurückkommen würde und nun dauerhaft in ein Seniorenheim müsste. Sie hatte ihm immer und immer wieder erzählt, wie schlecht es ihr gehen würde, wie wenig sie noch machen könnte. Ich konnte das nicht beurteilen, denn ich weigerte mich in den ganzen 3 1/2 Monaten, sie auch nur einmal zu besuchen.
  
Wir atmeten auf. DAS wäre das Beste, was uns passieren könnte. Hoffnung machte sich breit.

Aber natürlich kam es nicht dazu. Natürlich hatte sie nie vor, in ein Seniorenheim zu gehen. Sie kam also wieder nach Hause. Mein Vater, der so aufgeblüht, wieder selbstbewusster geworden war, baute total ab. Zweimal die Woche war ich bei meinen Eltern zu Besuch und konnte mit ansehen, wie es ihm von Besuch zu Besuch schlechter ging. Ich versuchte, mit ihm zu reden, aber das war nur sehr schwer möglich, da sie ja immer höllisch aufpasste, damit ihr ja nichts entging. In den kurzen Momenten, in denen wir alleine sprechen konnten, sagte ich ihm erneut, dass er nicht alleine sei, er könnte ausziehen, wir würden ihm helfen. Er wollte aber nicht weg. Er wollte dort wohnen bleiben. Sie drängelte ihn wohl sehr, dass sie endlich in eine andere, seniorengerechte Wohnung umziehen sollten. Es war eine sehr schwere Zeit für ihn.

Dann stand sein Geburtstag an. Die letzten Jahre hatte meine Mutter so gut wie alle Familienfeiern entweder im letzten Moment abgesagt oder von vornherein erst gar nicht stattfinden lassen. Nicht nur ihr eigener Geburtstag, nein, alles. Den gemeinsamen Hochzeitstag, um ihn zu strafen, seinen Geburtstag, Weihnachten, Silvester, einfach alles.

Da ich aber Sorge hatte, dass es aufgrund des Alters vielleicht irgendwann der letzte Geburtstag sein könnte und ich ihm etwas Gutes tun wollte, bestand ich darauf, seine Geburtstagsfeier auszurichten. Ich setzte mich durch und obwohl es ihr überhaupt nicht schmeckte, fand sein Geburtstag mit einer kleinen, aber feinen Feier tatsächlich statt.

Ich hatte mehrere Kuchen gebacken, Abends bestellten wir Essen beim Italiener. Er hatte Spaß an diesem Tag. Wir räumten noch mit auf und gingen dann heim.
  
2 Tage später erhielt ich einen Anruf von meiner Mutter. Mein Vater sei einkaufen gegangen und nicht wiedergekommen. Das wäre nun über 2 Stunden her. Ich war irritiert. Wo sollte er denn sein? Ich versuchte mehrfach, ihn auf seinem Handy zu erreichen – vergebens. Ich sagte ihr, dass sie mich sofort informieren sollte, wenn sie etwas hört oder er wieder da sei.

Später kam ein weiterer Anruf von ihr: Mein Vater war gestürzt und im Krankenhaus. Hatte eine Kopfverletzung mit einer Hirnblutung, dazu noch einen Bruch am Oberschenkel, der operativ versorgt werden musste.

Ich eilte natürlich gleich ins Krankenhaus, um nach ihm zu schauen. Schon mehrfach hatte ich die Ergebnisse seiner Stürze gesehen, mal mehr, mal weniger schlimm, aber dieses mal hatte es ihn doch heftig erwischt.

In den folgenden Wochen war ich fast täglich, manchmal auch 2x pro Tag bei ihm. Mein volljähriges Kind und ich versuchten alles, damit es ihm irgendwie besser geht. Wir achteten auf Veränderungen, führten sehr viele Gespräche mit Schwestern, Ärzte, Therapeuten usw.

Meine Mutter hielt sich mit den Worten „Ihr macht das alles sooo schön“ aus der ganzen Angelegenheit raus. Sie sah auch keine Notwendigkeit, ihn zu besuchen. Wollte aber weiterhin, dass ich auch bei ihr nach dem Rechten sehe, denn sie kann halt nicht mehr alles alleine daheim. Irgendwann hatte ich sie dann festgenagelt, dass sie es ja wohl einmal die Woche schaffen würde, ihren Ehemann, der mit einer schweren Kopfverletzung im Krankenhaus liegt, zu besuchen – die wöchentliche Fahrt zum Friseur würde sie ja auch problemlos meistern. Und sie fuhr!
  
Ich pendelte wochenlang bei sommerlichen 30 Grad zwischen meiner Mutter und meinem Vater hin und her. Aber meinem Vater ging es einfach nicht besser. Er war so unglücklich gefallen, dass er immer mehr und mehr nicht mehr er selbst war und stark abbaute. Ein anfängliches Delir, das eigentlich überwunden schien, kam wieder durch. Irgendwo in seinem Körper steckte eine Infektion, die immer und immer wieder aufflammte. Mein Kind und ich versuchten, ihn mental zu stärken, ihn wieder aufzubauen. Zeigten und erklärten ihm, dass sein Leben noch nicht zu Ende sei, dass es weitergeht und wir für ihn da sind.

Meine Mutter äußerte den Wunsch, dass mein Vater ja zu ihr nach Hause kommen könnte, da könnte man ein Pflegebett für ihn hinstellen. Ich war entschieden dagegen, damit wäre er ihr absolut hilf- und wehrlos ausgesetzt! Außerdem war zu diesem Zeitpunkt eine Versorgung daheim sowie nur noch schwer umsetzbar, da sich sein Zustand immer mal wieder rapide verschlechterte.

Mein Vater, der immer gerne gegessen hatte, stellte irgendwann die Nahrungsaufnahme komplett ein. Wir versuchten mit allen möglichen Leckereien, ihn wieder zum Essen zu bewegen. Torte, McDonalds, seine Lieblingsspeisen – es half nichts. Er wollte nicht mehr. Und nahm weiter ab. Und baute weiter ab. Und weiter und weiter.
  
5 Tage vor seinem Tod wurde mir auf einmal sehr deutlich bewusst, dass das nun das Ende sein wird. Ich hatte ein letztes Mal versucht, ihn davon zu überzeugen, dass wir es schaffen können. Ich für ihn da bin, wir es schaffen! Aber er wollte nicht mehr und sagte dieses auch immer wieder deutlich.

Er wollte keine lebensverlängernden Maßnahmen, er wollte diese Quälerei und die Schmerzen nicht mehr. Mein Vater, ein stets lebensbejahender Mensch, gab auf. Vermutlich auch mit dem Hintergedanken an die Option, die ihm blieb. Er hatte in den 6 Wochen über 15 Kilo abgenommen, konnte nicht mehr stehen, nicht mehr laufen, nicht mehr selbstständig die Toilette benutzen oder essen.
  
Als 4 Tage später in aller Früh mein Handy klingelte, wusste ich, dass das der entscheidende Anruf war. Die diensthabende Ärztin teilte uns mit, dass mein Vater im sterben lag. Meine Mutter und ich eilten zu ihm und nahmen Abschied. Keine 24 Stunden später, auf den Tag genau 6 Wochen nach seinem Sturz, schlief er friedlich und schmerzfrei für immer ein.

Mir fiel es unheimlich schwer, das zu akzeptieren und doch war ich erleichtert. Erleichtert darüber, dass er nun keine Schmerzen mehr haben muss. Er ihr nicht doch noch ausgeliefert war, als Schwerstpflegefall. Und er nun endlich, nach so vielen Jahren, frei ist. Sich ihrer Kontrolle entzogen hat. Für immer.

Dieser Gedanke tröstet mich ein wenig.