Das unvermeidliche Ende: Allein mit ihrer Krankheit (33)


Nun, nach seinem Tod, fällt auf, wie viel er eigentlich im Haushalt gemacht hat, auch wenn sie immer wieder, auch heute noch, behauptet, das würde nicht stimmen! Wie viel er vor uns sehr vermutlich auch verheimlicht hatte, um weiterhin heile Welt vorzuspielen und uns nicht zusätzlich noch zu belasten. Stattdessen nahm er alles auf sich.

Ihr letzter Versuch, wieder die Oberhand in ihrem Spiel „Wer wird beim medizinischen Dienst als kränker angesehen“ zu bekommen, ist mir leider erst nach dem Tod meines Vaters aufgefallen. Die Post, die in der Zeit kam, als mein Vater nach seinem Sturz im Krankenhaus lag, hatte sie geöffnet und ich schaute auch öfter mal drüber. Aber einen Brief hatte sie mir tatsächlich unterschlagen und zwar ganz bewusst. Es war kein Versehen, denn ich wusste, was sie mir erzählt hatte.

Sie beschriftete sonst alle Briefumschläge und legt diese auf einen Stapel, der noch zu bearbeiten ist. Kamen Briefe in der letzten Zeit für meinen Vater an, zeigte sie mir diese auch oder wir öffneten sie gemeinsam. Beim aussortieren einiger Briefe nahm ich mir auch ihren Stapel Briefe vor. Vor ein paar Tagen fiel mir dabei ein unbeschrifteter Briefumschlag in die Hände. Normalerweise beschriftet sie jeden einzelnen Briefumschlag. Hier stand nichts drauf. Dieser Briefumschlag lag ziemlich weit unten auf einem Stapel, der nur für ihre Briefe und Angelegenheiten gedacht war, nicht für seine.

Als ich den Brief aus dem Umschlag holte, war ich mehr als nur überrascht. Mein Vater sollte vom medizinischen Dienst nach seinem schweren Unfall neu begutachtet werden. Mit Sicherheit hätte er Pflegegrad 3, wenn nicht sogar 4 erhalten. DAS war der Brief, auf den wir so lange gewartet hatten! Wir wurden dabei zur Mitarbeit aufgefordert, da noch einige Informationen fehlten, ansonsten konnte die Begutachtung durch den medizinischen Dienst nicht stattfinden! Und natürlich fand diese nicht statt, weil wir alle auf den Brief warteten!

Ich sprach meine Mutter natürlich umgehend auf diesen Brief an. Fragte sie gezielt, warum sie mir diesen nicht gegeben hatte. Jeder hatte auf diesen Brief gewartet! Sie gab keine Antwort, als ich drängelte, sagte sie „Och, da hab ich das wohl vergessen“.

Sie hatte es nicht vergessen. Ich hatte mehrfach in der Zeit nachgefragt, sie direkt darauf angesprochen. Sie wollte mich informieren, sobald der Brief ankommt, sagte sie immer wieder.

Es war wieder ein Boykott ihrerseits. Mir ist auch mittlerweile klar, warum sie den Brief unterschlagen hat.
  

Meine Mutter wollte ja stets einen höheren Pflegegrad als mein Vater haben. Nach seinem schweren Unfall hätte er also den höheren Pflegegrad gehabt. Das wusste sie zu vermeiden, indem sie den Brief unterschlug.

Man kann sich wahrscheinlich vorstellen, wie ich mich nach dem Fund des Briefes fühlte. Nicht, dass die Begutachtung des medizinischen Dienstes und seine Höherstufung etwas an seinen Tod geändert hätte, nein. Aber dass sie selbst zu diesem Zeitpunkt noch so hinterhältig war, widerte mich noch mehr an.
  

Und nun … nun ist keiner ist mehr da, den sie herumschuppsen kann, ob verbal oder tatsächlich. Niemand räumt alles das weg, was sie so liegen lässt. Keiner kümmert sich um den Papierkram, um die Finanzen. Um die Wäsche. Einfach um alles. Niemand, den sie den ganzen Tag beschimpfen und beleidigen kann.

Da bin nur noch ich. Ich versuche, ihr Hilfestellung bei den Dingen zu geben, die sie nun alleine machen muss, aber sie will es einfach nicht alleine machen. Und ich mache diese Spielchen nicht mehr mit, sobald ich merke, dass sie versucht, mich zu manipulieren, verlasse ich die Wohnung und gehe. Das ist sicherlich ein Zustand, den sie so auch nie einkalkuliert hatte.

Wer noch Kontakt zu ihr hält, sind ihre „Bezahlfreunde“, wie ich es immer so schön nenne. Also ausschließlich Menschen, mit denen sie aufgrund einer Dienstleistung, die sie in Anspruch nimmt, Kontakt hat. Die Pflege, ein Fahrdienst, Taxifahrer, Arzt, Apotheker, die Krankenversicherung, die Frau an der Käsetheke, die Fußpflege, der Friseur sowie die Bank-Angestellte.

Diese Menschen sind die einzigen, die sie im Leben noch hat. Alle anderen hat sie nach und nach vergrault und merkt es immer noch nicht. Niemand möchte mehr mit ihr Kontakt haben, niemand fragt nach, wie es ihr geht.

Alle paar Tage bin ich nun ein paar Stunden bei ihr und kümmere mich um die wichtigsten Dinge, natürlich schreibe ich auch mal eine E-Mail, denn das kann sie wirklich nicht. Aber andere Dinge übernehme ich nicht mehr. Alle Angebote, die man ihr gemacht hat bezüglich andere Wohnung, Seniorenheim, betreutes Wohnen oder sonstige Vorschläge lehnt sie ab. Möchte aber trotzdem umziehen. Geht man darauf ein, fangen wieder Spielchen an, warum das nicht geht usw.
  

Dieses Verhalten ist so festgefahren, dass eine vernünftige Kommunikation einfach nicht mehr möglich ist. Sie kann sich selbst mehrfach in einem Satz widersprechen. Hat für wirklich alles Ausreden. Versucht weiterhin zu manipulieren, stiftet bei den wenigen Menschen, mit denen sie nun Kontakt hat, auch gerne Verwirrung.

Heute sind wir auf dem Stand, dass ich sie darüber informiert habe, dass ich für sie einen Platz im Heim finden werde, wenn ich merke, dass sie trotz meiner Hilfe nicht mehr mit der „Situation“ zurecht kommt und zu viele Dinge in der Wohnung vernachlässigt werden.

Man wird sehen, wie es sich weiterentwickelt. Ich bin mir sicher, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist. Warum ich mich noch um sie kümmere? Aus Verantwortung und Pflichtgefühl, trotz allem, was geschehen ist. Aber mehr auch nicht. Meine Mutter habe ich schon vor vielen, vielen Jahren verloren. An die Krankheit, die über allen anderen Erkrankungen stand und weiterhin steht. Die unsere ganze Familie kaputt gemacht hat. Mehr als das halbe Leben meines Vaters sowie einen Großteil meines Lebens bestimmte. Und auch im Seniorenheim wird sie sich sehr schnell unbeliebt machen, da bin ich mir sicher.

Sie wird am Ende ganz alleine sein. Sie … und das Münchhausen-Syndrom.